Woher kam Omikron?
Der lange Kampf eines 45-jährigen Patienten aus Boston gegen das Coronavirus wurde weltbekannt. Er hatte sich im Sommer 2020 infiziert. Covid-19 gesellte sich bei ihm zu einer Erkrankung namens Antiphospholipid-Syndrom, bei der das Immunsystem den eigenen Körper angreift. Um das zu verhindern, nahm der Patient seit vielen Jahren Medikamente, die die Immunabwehr dämpften. Nach drei Tagen mit Schüttelfrost, Übelkeit, Kopfschmerzen und anhaltendem Fieber begab er sich ins Krankenhaus, wo er positiv auf das Coronavirus getestet und mit dem antiviralen Medikament Remdesivir behandelt wurde. Nach fünf Tagen wurde er in die Heimquarantäne entlassen.
Zwei Monate später war der Mann zurück im Spital. Er litt an Atemnot und Übelkeit, der PCR-Test schlug abermals an. Wieder bekam er Remdesivir, diesmal für zehn Tage, und kehrte drei Wochen später nach Hause zurück. 14 Tage später landete er abermals im Krankenhaus. Wieder war er positiv und hatte Probleme, Luft zu bekommen. Weder ein Antikörper-Cocktail noch eine neuerliche Gabe von Remdesivir konnte seinen Weg auf die Intensivstation verhindern. Dort starb er sieben Tage später an einer schweren Lungenentzündung.
Die Ärztin Bina Choi und ihre Kollegen im Brigham and Women’s Hospital in Boston dokumentierten die fünfmonatige Krankengeschichte ihres Patienten bis ins kleinste Detail. Und sie untersuchten das Virus aus jedem seiner Nasenabstriche auf Mutationen. Das Ergebnis: Das Virus hatte sein Erbgut stark verändert. Es hatte zwölf Mutationen im Spike-Protein hervorgebracht, also in jenem Teil, mit dem es sich Zutritt in die menschliche Zelle verschafft. Das lange Zirkulieren im Körper des Patienten hatte eine Evolutionskette angestoßen, die in etwa doppelt so schnell vonstattenging wie bei einem sich von Mensch zu Mensch verändernden Virus.
Damit lieferte Bina Choi im Dezember 2020 erstmals den Beweis: Neue Varianten können in einem einzelnen immungeschwächten Patienten entstehen – und zwar in hohem Tempo. Zu dieser Zeit war gerade Beta über Großbritannien hereingebrochen. Virologen gehen heute davon aus, dass die Variante von einem Patienten ähnlich jenem in Boston stammte.
Doch Omikron ist anders. Die derzeit dominante Variante besitzt 50 Mutationen, 30 davon im Spike-Protein. Das sind etwa doppelt so viele, wie Alpha, Beta, Gamma oder Delta hervorgebracht haben. Zudem hat Omikron drei Subvarianten entwickelt, von denen BA.2 nun gerade in vielen Regionen das Ruder übernimmt. Auch in Österreich ist sie auf dem Vormarsch.
Woher kam diese hoch entwickelte Variante, die sich binnen weniger Wochen über den gesamten Globus ausbreitete? Darüber zerbrechen sich Virologen derzeit weltweit den Kopf- und finden drei Antwortmöglichkeiten.
1. Der tierische Zwischenwirt
Hyänen, Nilpferde, Löwen, Gorillas, Tiger, Zwergotter, Hamster: SARS-CoV-2 ist offensichtlich nicht wählerisch bei der Wahl seines Wirts. Auf der ganzen Welt wurden Zootiere immer wieder positiv auf dieses Coronavirus getestet, die meisten überstanden ihre Infektion recht gut. Eine Ansteckung durch Pfleger oder Besucher ist sehr wahrscheinlich. Ähnliches gilt für die Ausbrüche in 400 Nerzfarmen quer durch Europa, wo sich das Virus dann von Tier zu Tier ausbreitete.
Doch auch wild lebende Tiere schnappten das SARS-CoV-2 bereits auf: So fanden Forscher in Indien Mitte Jänner einen toten Leoparden, der sich mit der Delta-Variante infiziert hatte (allerdings nicht daran, sondern an Verletzungen durch ein anderes Raubtier gestorben war).In den USA stehen Weißwedelhirsche unter strenger Beobachtung. In wild lebenden Herden in Iowa, Illinois, Michigan und Pennsylvania breitete sich das Virus schlagartig aus-in manchen Herden fand man bei 60 Prozent der Tiere Antikörper.
Omikron wurde bekanntlich in Afrika entdeckt. Was, wenn das Virus in einer dort heimischen Tierart zirkulierte, sich weiterentwickelte und irgendwann einen Dorfbewohner, einen Jäger oder einen Wildhüter infizierte? Oder wenn es sich bei Ratten oder Mäusen ausbreitete, die räumlich einen deutlich engeren Kontakt zu Menschen haben? Immerhin fanden Virologen in der Omikron-Variante einzelne Mutationen, die sie auch schon bei Labormäusen entdeckt hatten.
"Ich halte diese Theorie für eher unwahrscheinlich", sagt Norbert Nowotny, Virologe an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Denn dass das Virus ein weiteres Mal und von einer anderen Tierart ausgehend auf den Menschen überspringt, wäre ungewöhnlich. Schon ein einzelner Übersprung sei ein sehr seltenes Ereignis. Außerdem versuche der Erreger, wenn er einmal in einer Spezies kursiere, sich an diese anzupassen. Das sah man am Beispiel der Nerzfarmen sehr deutlich, sagt Nowotny: "Das Virus wurde für die Nerze virulenter, nicht für den Menschen."
2. Omikron flog unter dem Radar
Die genetische Analyse zeigt, dass ein Vorläufer von Omikron schon Mitte 2020 unterwegs war - allerdings schnell wieder von der Bildfläche verschwand. Aber wohin zog sich die Variante zurück und warum tauchte sie 15 Monate lang nie in einer Probe auf? In dieser Zeit dürften sich auch die drei Subvarianten entwickelt haben, die sich deutlich voneinander unterscheiden, was auf eine längere, voneinander unabhängige Entwicklung hindeutet.
Erst am 11. November 2021 landete Omikrons erster Subtyp BA.1 im Labor von Sikhulile Moyo in Botswanas Hauptstadt Gaborone. "Wir hatten plötzlich vier Proben vor uns, die Mutationen zeigten, die wir noch nie gesehen hatten", sagte Virologe Moyo später dem TV-Sender Aljazeera. Er habe sie mehrmals analysiert, um sicherzugehen, dass kein Messfehler vorlag. Doch alle Daten waren korrekt. Die Abstriche stammten von vier Diplomaten, die aus dem Ausland eingereist waren. Woher genau, wurde nicht verraten. Botswanas Präsident Mokgweetsi Masisi sagte dem Sender CNN, "zumindest manche davon" seien "in Europa" gewesen. Wenige Tage später schlugen auch Virologen in Südafrika und Hongkong Alarm: Sie hatten B.1.1.529, wie die Variante zuerst hieß, ebenfalls gefunden.
Woher die vier Diplomaten ihre Infektionen hatten, bleibt ungewiss. Allerdings gibt es viele abgelegene Regionen auf der Welt, in denen wenig getestet und noch weniger sequenziert wird.
3. Viele Immunschwache in abgelegenen Regionen
Die dritte Antwort ist nach Ansicht Nowotnys und vieler anderer Virologen die wahrscheinlichste. Im südlichen Afrika gibt es Schätzungen zufolge acht Millionen HIV-Infizierte, die ohne medizinische Behandlung auskommen müssen. Ähnlich wie bei Bina Chois Patient im Bostoner Spital ist deren Immunsystem stark geschwächt. Ihre Abwehrzellen attackieren das Coronavirus zwar, können es aber oft über Monate hinweg nicht besiegen. So bleibt der Erreger im Körper und durchläuft quasi ein Trainingslager im Schnelldurchlauf.
Aber reicht ein Patient aus, um eine Supervariante wie Omikron auszubrüten? "Wahrscheinlich waren es mehrere", sagt Norbert Nowotny. Er vermutet eine Zahl im einstelligen Bereich. Von diesen Patientinnen und Patienten gelangte das Virus wahrscheinlich in die Bevölkerung, wo es noch einige Zeit unbemerkt kursiert sein dürfte. Für einen Ausbruch in abgelegenen Regionen in Afrika spricht die geringe Zahl der Tests und die noch geringere Zahl der genetisch untersuchten Proben. Während in Europa drei Prozent der positiven Abstriche auf neue Varianten hin analysiert werden, sind es in Afrika gerade einmal 0,7 Prozent. Fazit: Im Hinblick auf neue Varianten ist nicht nur der Kampf gegen das Coronavirus in ärmeren Ländern essenziell, sondern auch jener gegen HIV.
Omikron in Österreich: BA.2 auf dem Vormarsch
Die hoch ansteckende Variante Omikron ist längst auch hierzulande dominant. Sie hat Delta, das mit rund fünf Prozent aller Neuinfektionen fast keine Rolle mehr spielt, in kürzester Zeit verdrängt. Seit etwa zwei Wochen buhlt nun der zuerst eingeschleppte Subtyp BA.1 mit BA.2 um die Vorherrschaft in Österreich-und Letzterer gewinnt stetig an Boden: "In manchen Regionen macht BA.2 bereits zehn Prozent der Infektionen aus, in anderen schon 20",sagt der Mikrobiologe Heribert Insam von der Uni Innsbruck. Gemeinsam mit Rudolf Markt und einem österreichweiten Team beobachtet er die Virenlast in Österreichs Kläranlagen.
Im Vergleich zur Delta-Welle, die nach ihrem Höhepunkt Ende November wieder deutlich einbrach, stellt sich bei Omikron derzeit ein Plateau auf relativ hohem Niveau ein. Der Grund: BA.2 ist ansteckender, und es entzieht sich der Immunantwort von Geimpften und Genesenen noch besser als BA.1. Deshalb wird es sich hierzulande bald durchsetzen und die Zahlen weiter oben halten. BA.3, die dritte Subvariante, tauchte erstmals im November 2021 in Europa auf, spielte bisher aber bei den Infektionen nur eine Rolle im Promillebereich. Auch weitere Varianten seien in Österreichs Abwässern derzeit nicht in Sicht, sagt Mikrobiologe Heribert Insam.
Müssen wir nun eine zweite Omikron-Welle fürchten? "Wahrscheinlicher ist es, dass die aktuelle Welle eine bis wenige Wochen länger dauert", sagt Virologe Nowotny. Auch könne es zu einem kurzzeitigen, erneuten Anstieg der Neuinfektionen durch BA.2 kommen.
Welche Varianten uns bisher heimsuchten
Alpha (B.1.1.7) tauchte erstmals im September 2020 in Großbritannien auf, war leichter von Mensch zu Mensch übertragbar und löste deshalb den Wildtyp aus Wuhan in vielen Regionen recht schnell ab. Sie dominierte die Pandemie in Europa im Frühjahr 2021.
Beta (B.1.351) kursierte ab Dezember 2020 in Südafrika, spielte in Österreich aber kaum eine Rolle.
Gamma (P.1) fanden Forscher im November 2020 in Brasilien, auch diese Variante schaffte es nur in Einzelfällen nach Österreich.
Delta (B.1.617.2) machte hingegen weltweit Karriere. Im Oktober 2020 in Indien erstmals sequenziert, sorgte die Variante auf dem Subkontinent im April und Mai 2021 für eine gigantische Welle mit vielen Toten. Dann schwappte Delta nach Europa, wo es im Juli 2021 das Pandemiegeschehen übernahm-und im Winterhalbjahr für die bis dato größte Belastung der Intensivstationen in Österreich verantwortlich war.
Omikron (B.1.1.529) wurde am 11. November in Botswana entdeckt und verdrängte Delta innerhalb weniger Wochen weltweit. Zunächst herrschte die Untervariante BA.1 vor, seit Jänner dominiert BA.2 in Dänemark und breitet sich auch im restlichen Europa stetig aus. BA.3 spielt bisher keine Rolle.