Wuhan: Die Wiege des Virus
Es war eine detektivische Spurensuche: Systematisch durchkämmten Teams von Forschenden das verdächtige Areal. Sie nahmen Proben von Geflügel und Fisch, von Dachsen, Riesensalamandern und Krokodilen. Sie untersuchten Abwasserkanäle, Ställe, Käfige, Toiletten und Verkaufsbuden. Bei rund 1000 Proben wurden sie fündig: Da fielen die Tests positiv aus. Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter glichen ihre Resultate außerdem mit Fotos, Videos, Medienberichten und Patientenakten ab. Ihre Befunde legten die internationalen Seuchenfahnderteams nun in drei Fachartikeln dar, die vorab im Journal „Nature“ veröffentlicht wurden. Deren Fazit ging aufgrund der dramatischen Kriegsereignisse der vergangenen Wochen ziemlich unter: Exakt zwei Jahre nach Beginn der Pandemie liege „extrem starke Evidenz“ vor, deren Quelle identifiziert zu haben.
Es handelt sich um einen Ort, der von Anfang an unter dringendem Verdacht stand: der Huanan Seafood Wholesale Market in Wuhan, jener chinesischen Stadt, in der im Herbst 2019 die ersten Fälle von Covid-19 auftraten. Zwar hatten schon bisher viele Indizien auf diesen Markt hingedeutet, doch Gewissheit hatte man nicht, und es gab auch alternative Hypothesen – darunter die Idee, dass ein Laborunfall die Pandemie ausgelöst haben könnte. Die Frage, ob das Virus natürlichen Ursprungs sei oder gleichsam menschgemacht, war monatelang hitzig diskutiert worden und hatte auch einige Verschwörungstheorien genährt.
Einer jener Forscher, welche die Laborhypothese wenigstens als Möglichkeit in Betracht zogen, war nun auch Mitglied der Forschungsteams, die den Markt in Wuhan detailliert untersuchten. Aufgrund der Ergebnisse hat sich der US-Virologe Michael Worobey aber auf eine Position festgelegt: „Wenn man auf die Evidenz blickt, ist klar, dass alles in dem Markt begann.“ Freilich: Der „Spillover“ des Coronavirus, der allererste Übersprung von SARS-CoV-2 vom Tier auf den Menschen, muss nicht zwangsläufig hier geschehen sein, wohl aber ereignete sich am Marktgelände sehr wahrscheinlich eine initiale kritische Zahl von Infektionen und somit jener Ausbruch, der den Beginn der Pandemie markierte. Selbst jener Bereich im Markt, der in den Worten der Forschenden das „Epizentrum des Outbreak“ darstellt, ließ sich eingrenzen: der südwestliche Sektor, in dem viele noch lebende Tiere verkauft wurden.
Außerdem gibt es eine konkrete Vermutung (wenn auch keinen Beweis), welches Tier der sogenannte Zwischenwirt gewesen sein könnte. Bekannt ist aufgrund genetischer Analysen schon länger, dass das Virus – wie viele Krankheitserreger, etwa Ebola und SARS – ursprünglich aus Fledermäusen stammt. Die Fledertiere sind somit das „Reservoir“: Sie tragen eine Menge an Viren in sich, ohne daran zu erkranken. Ein Grund dafür dürfte ein permanent erhöhter Spiegel von Interferon alpha sein – eines Proteins, das auch der Hemmung viraler Erreger dient und beim Menschen Fieber und Entzündungen verursacht. Der Weg zum Menschen führt in aller Regel über ein weiteres Tier, den Zwischenwirt, und auf dieser Route mutiert das Virus derart, dass es humane Zellen infizieren sowie von Mensch zu Mensch weitergereicht werden kann.
Die Spurensuche führte in diesem Fall zu Käfigen, in denen Marderhunde gehalten wurden. Die Tiere, die verschiedene Coronaviren beherbergen können, dienen in China sowohl als Nahrung als auch als Felllieferanten. Die Annahme der Forschenden lautet: Die Marderhunde steckten sich in Farmen, in denen sie gezüchtet wurden, mit dem neuartigen Coronavirus an – durch direkten Kontakt mit Fledertieren oder deren Kot. Anschließend wurden sie lebend in dem Markt in Wuhan angeboten, wo sich im Herbst 2019 Käufer oder Verkäufer infizierten. Das war Stunde Null der Pandemie, und der Markt stellte gleichsam „Ground Zero“ des Ausbruchs dar.
Nun fragt man sich vielleicht: Woher kann man das alles so genau wissen? Man weiß es vor allem aufgrund der unglaublichen Leistungsfähigkeit moderner Genanalytik. Ein Teil der Forschungen zielte darauf ab, sämtliche auf dem Markt gewonnenen Proben zu sequenzieren, also sie genetischen Analysen zu unterziehen. Dabei wurde nach Spuren von SARS-CoV-2 gesucht, wobei die Expertinnen und Experten vor allem auf Oberflächen wie solchen von Ställen fündig wurden. Es stellte sich heraus, dass die Zahl der viruspositiven Proben räumlich auffällig konzentriert war. Am dichtesten war sie bei einem einzigen Stall, in dem die Marderhunde hausten. Die Forschenden folgten den Proben somit wie einer Fährte.
Zugleich verglichen sie ihre Ergebnisse mit Virusproben von Patienten und konnten den Grad der genetischen Nähe zu den Virusgenomen von Fledermäusen und Marderhunden ermitteln. Außerdem fanden sie heraus, dass zwei Linien von SARS-CoV-2 am Markt aufgetreten waren, die sie Linie A und B nannten. Sie folgerten, dass das Virus im Marktumfeld zweimal vom Tier auf den Menschen übergegangen war – was ebenfalls gegen einen Laborursprung spricht. Denn es wäre ein sehr ungewöhnlicher Zufall, wenn einem Labor zweimal zur fast selben Zeit am selben Ort eng verwandte Coronaviren eines neuen Typus entschlüpft wären. Eine Verbreitung über infizierte Tiere ist deutlich naheliegender.
Einen letztgültigen Beweis, dass sich alles genau so zugetragen hat, können freilich auch die neuen Studien nicht liefern – wie immer in der Wissenschaft ist es denkbar, dass künftige Arbeiten zu anderen Resultaten kommen. Allerdings sind die jüngsten Analysen äußerst plausibel und zudem methodisch sehr gut durchgeführt, wie verschiedene unabhängige Forschende urteilten. „Die Studien haben sich die Situation sehr genau angeschaut und gründlich untersucht“, konstatiert der Wiener Virologe Norbert Nowotny.
Zudem gelten Märkte wie jener in Wuhan seit jeher als Risikogebiete für den Spillover neuartiger Krankheitserreger. Beim Vorgänger von SARS-CoV-2 war das Muster sehr ähnlich: Als Wiege von SARS im Jahr 2002 gilt der Dongmen-Markt im chinesischen Shenzen. Überträger dieses Virus dürfte eine Schleichkatzenart gewesen sein, deren Fleisch als Delikatesse auf dem Markt gehandelt wurde. Die Schleichkatzen hatten sich das Virus ebenfalls bei Fledertieren eingefangen.
Sind damit Märkte generell ein Gefahrenherd für Seuchenausbrüche? Müsste man davon ausgehen, dass ähnliche Ereignisse theoretisch auf jedem beliebigen Markt stattfinden könnten, zum Beispiel auch in Österreich? Keinesfalls. Der typische Waldviertler Bauernmarkt ist nicht einmal in Ansätzen mit dem Huanan Market vergleichbar. Die im Jänner 2020 nach Ausbruch der Pandemie gesperrte Verkaufsfläche war erstens riesig: Auf fünf Hektar boten rund 1000 Unternehmen ihre Waren an. Einer Studie aus dem Vorjahr zufolge wurde dort zwischen 2017 und 2019 das Fleisch von etwa 47.000 Tieren verkauft, darunter 31 geschützte Arten. Zweitens ist eine Besonderheit vieler asiatischer Märkte, dass lebendige Tiere zum Verkauf stehen – zum Beispiel eben Marderhunde oder Schleichkatzen. Auf einem traditionellen europäischen Markt dagegen steht lediglich Fleisch geschlachteter Tiere zur Auswahl, das zudem eine veterinärmedizinische Beschau und eine Reihe von Kontrollen durchlaufen hat. „Bei uns gibt es daher nur Produkte, die wesentlich weniger gefährlich sind als lebende Tiere“, sagt Nowotny. Denn letztere atmen und husten und können dadurch leicht einen Sprühnebel infektiöser Tröpfchen ausstoßen – was besonders im Gedränge solcher Märkte fatal sein kann, wo sich Menschen und Tiere auf engstem Raum aufhalten.
Aber selbst wenn in unseren Breiten die Kontrollen einmal versagen sollten und zum Beispiel Chargen von Wild ungeprüft in den Handel kämen – womit könnten sie überhaupt infiziert sein? Fledermäuse kommen hier natürlich auch vor, und die heimischen Arten sind ebenfalls von einer Menge verschiedener Viren besiedelt. Doch alle bisherigen Untersuchungen dieser Populationen hätten gezeigt, dass es sich nicht um für den Menschen problematische Krankheitserreger handelt, so Nowotny. Ein folgenreicher Spillover ist zwar niemals gänzlich ausgeschlossen, allerdings hochgradig unwahrscheinlich.
Ganz anders verhält sich dies im südostasiatischen Raum, der als wahrer Hotspot für Coronaviren und viele andere Virenarten gilt. Niemand weiß, wieviele noch unbekannte Viren dort in abgelegenen Landstrichen vorkommen. Doch nahezu jede Stichprobe identifiziert Dutzende vormals unentdeckte Krankheitserreger, die potenziell bedrohlich sein könnten. Zugleich leben dort Dutzende Spezies von Fledertieren, deren Lebensraum sich mit jenem von Menschen und deren Nutztieren überschneidet, wobei letztere häufig unter hygienisch wenig zeitgemäßen Umständen gehalten werden. Im Vorjahr stellte eine Studie die These auf, dass es in dieser Region jedes Jahr zu Abertausenden unbemerkten Spillovers kommen könnte, die bloß nicht auffallen, weil die Viren nicht soweit mutieren, dass sie von Mensch zu Mensch weitergegeben werden können – bis es im Einzelfall dann eben doch dazu kommt, wie zuletzt bei SARS-CoV-2.
China hat zwar zuletzt einiges getan, um die Problematik der „Wet Markets“ einzudämmen, auf denen lebendige Tiere verkauft werden. Nicht nur wurden der Huanan Market sowie viele Wildtierfarmen geschlossen, auch die Zucht von Schleichkatzenarten ist mittlerweile untersagt. Doch auch in Afrika gibt es eine Unzahl solcher Märkte, auf denen „Bushmeat“ feilgeboten wird – Frischfleisch von Wildtieren, die theoretisch durchaus das Zeug dazu hätten, Quell für die nächste Pandemie zu sein.
Das Risikoprofil
Warum von chinesischen Märkten Seuchengefahr ausgeht – kaum jedoch von österreichischen.
Die Größe: Typische mitteleuropäische Märkte sind meist überschaubar, der Huanan Seafood Market hingegen war groß und beengt – allein die Fläche maß mehr als das Doppelte des Wiener Naschmarkts. Käufer, Verkäufer und Tiere waren dort oftmals dicht gedrängt.
Die Ware: Entscheidend ist, dass auf chinesischen und südostasiatischen Märkten nicht nur Fleisch und Fisch, sondern lebendige Tiere angeboten wurden und werden. Vielfach handelt es sich um exotische Spezies, die auf speziellen Farmen gezüchtet werden und als Delikatessen gelten. Bei uns hingegen gelangt nur Fleisch von geschlachteten Tieren zum Verkauf, das keine infektiösen Tröpfchen oder Aerosoloe verbreiten kann.
Die Hygiene: In Österreich gelten strenge veterinärmedizinische Kontrollen – anders als in vielen jener Farmen Südostasiens, in denen exotische Wildtiere gezüchtet werden, die wiederum leicht mit Fledertieren und deren Ausscheidungen in Kontakt kommen können.
Das Umfeld: Viele Fledermausarten Südostasiens bergen ein reiches Reservoir an Krankheitserregern, die für den Menschen gefährlich werden können. Auch in österreichischen Fledermäusen wurden zahlreiche Viren gefunden, bisher jedoch keine problematischen. Selbst wenn sich Wildtiere damit infizieren, ist das Risiko für den Menschen gering.