Zucker im Kopf: Wie Kinder auf Süßes programmiert werden
Mama, Papa, darf ich ein Eis?“ Diese Frage hören Vesna und Jova Stepnic im heurigen Sommer mehrmals täglich. Die Zwillinge Mira und Andre, fünf Jahre alt, sitzen in einer Korbschaukel und lassen sich von ihrer Mutter antauchen. Es ist heiß an diesem Samstagvormittag Ende Juli, doch unter den Bäumen des kleinen Spielplatzes im 15. Wiener Gemeindebezirk lässt es sich aushalten. „Es fällt mir sehr schwer, ihnen Süßes zu verbieten“, sagt Jova Stepnic, während seine Frau und die Kinder in Richtung Sandhaufen weiterziehen. Der Deal ist heute: Zuerst gibt es Mittagessen, dann bekommen sie ein Eis. Möglicherweise werde er sich nicht wehren können, den beiden auch am Nachmittag noch eines zu spendieren, gibt Stepnic lächelnd zu.
Besonders drängen Mira und Andre, wenn sie „Paw Patrol“, „Peppa Wutz“ und andere Lieblingssendungen auf YouTube gesehen haben. „Dann heißt es beim Einkaufen: ‚Papa, wir wollen die neue Schokolade oder die neuesten Gummischlangen ausprobieren‘“, sagt Step-nic, der mit Trockenbau sein Geld verdient.
Tatsächlich zählt Werbung zu den Hauptgründen, warum Kinder von Süßigkeiten nicht genug bekommen. 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel sehen Kinder zwischen drei und 13 Jahren im Durchschnitt täglich, wie eine Studie der Universität Hamburg kürzlich zeigte. Aber auch das Verhalten der Eltern und das Angebot in Kindergarten und Schule prägen entscheidend mit, wie viel Süßes Kinder im Alltag verputzen. Die Pandemie hat die Bildschirmzeit der Kleinen zudem vervielfacht, Turnen und Bewegung gleichzeitig eingeschränkt. Damit stieg auch die Zahl der Übergewichtigen: Vor der Pandemie war jedes fünfte Kind zu schwer, heute ist es jedes vierte, wie die Österreichische Adipositas Gesellschaft berechnet hat.
Was aber können die Eltern tun – und was die Politik? Welche Folgen hat eine Überdosis Zucker in der Kindheit im späteren Leben? profil hat bei Expertinnen und Experten nachgefragt.
Einmal Zucker, immer Zucker
Kinder werden auf Zucker programmiert. Den eindrucksvollen Nachweis dafür lieferte heuer im Frühjahr eine Studie zum Ende der Zuckerrationierung in Großbritannien. Im Zweiten Weltkrieg hatte die britische Regierung Süßes streng limitiert, am 5. Februar 1953 war damit Schluss: Die Briten stürmten die Läden und rissen sich laut der Tageszeitung „The Guardian“ vor allem um glasierte Äpfel, Nougatstangen und Lakritzen; binnen eines Jahres verdoppelte sich der Zuckerkonsum auf der Insel.
Für die Wissenschaft ist das wie ein gigantisches Ernährungsexperiment. Die Ökonomin Tadeja Gračner verglich, wie viel Süßes die zwischen 1950 und 1953 Geborenen heute essen, mit dem Konsum der zwischen 1955 und 1960 Geborenen. Die Unterschiede sind frappant. Die späteren Jahrgänge verdrücken heute noch deutlich mehr Zucker als jene, die ihre ersten Lebensjahre ohne Süßigkeiten verbracht haben. Die Folge: Die später Geborenen, heute allesamt Mitte 60, entwickelten anderthalbmal so häufig Diabetes, leiden öfter an Arthritis und haben ein deutlich höheres Herz-Kreislauf-Risiko als ihre zuckerfrei aufgewachsenen Zeitgenossen. Fazit: Wer früh auf Zucker konditioniert wird, fliegt ein Leben lang auf Süßes.
Maximal ein Stück Süßes täglich
In den ersten zwei Lebensjahren haben Vesna und Jova Stepnic ihre Zwillinge quasi ohne Zucker ernährt. Süßes kannten die Kinder höchstens von zerdrücktem Obst. Das ist exakt, was Medizinerin Susanne Greber-Platzer, Leiterin der Uniklinik für Kinder- und Jugendheilkunde am AKH Wien, empfiehlt. Zu viel Zucker bringt den Stoffwechsel durcheinander, der Körper benötigt zu viel Insulin; Hunger- und Sättigungsgefühl geraten aus den Fugen.
Zu trinken bekommen Mira und Andre bis heute hauptsächlich Wasser, „nur ab und zu Bio-Apfelsaft“, sagt Stepnic. Kracherl, Eistee und Cola sind tabu. Auch das ist vorbildlich: „Grundsätzlich sollten Kinder nur Mineral- oder Leitungswasser oder ungezuckerten Tee trinken“, erklärt Kinderärztin Greber-Platzer.
Schlechte Ernährung ist ein Bildungsproblem
Was aber tun, wenn die Kinder bereits auf Zucker programmiert sind? Um sie von Limonaden oder Fruchtsäften zu entwöhnen, können die Eltern das Lieblingsgetränk immer stärker mit Wasser verdünnen. „Insgesamt ist es das Wichtigste, Struktur in den Alltag zu bringen“, rät Greber-Platzer. Jeder Tag sollte einem Plan folgen: Gemeinsam frühstücken, nach Ferienbetreuung, Kindergarten oder Schule sollte körperliche Aktivität folgen, wie Spielplatzbesuche, Radfahren oder ein Sportkurs. Abends sollten Eltern und Kinder möglichst gemeinsam kochen und essen. Ein kleines Stück Süßes sollte maximal einmal täglich auf den Tisch kommen, zum Beispiel als kleine Nachspeise. Wichtig sei ebenfalls, mit den Kindern über ihren Tag, ihre Ängste und Sorgen zu sprechen. „Häufig ist übermäßiges Essen eine Strategie, mit Problemen fertigzuwerden“, so die Expertin.
Können Süßungsmittel helfen, Naschkatzen vom Zucker abzuhalten? Kaum, darin sind sich Medizinerinnen einig. Auch Sucralose, Cyclamat, Aspartam und Saccharin verstärken die Gier nach Schleckereien. Zudem stehen sie im Verdacht, die Darmflora zu verändern. Der Süßstoff Aspartam wurde außerdem von der WHO kürzlich als „möglicherweise krebserregend“ eingestuft. Auch wenn man täglich mehrere Dosen Softdrinks trinken müsste, um den empfohlenen Grenzwert zu überschreiten.
Übergewicht trifft häufiger sozial schwächere Familien und Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad, das haben internationale wie österreichische Studien erwiesen. Oft fehlt das Wissen über gesunde Ernährung oder schlicht die Zeit, sich damit zu befassen.
Sind beide Eltern übergewichtig, haben ihre Kinder kaum mehr eine Chance: Ihr Risiko, ebenfalls zu viel zu wiegen, liegt bei 70 Prozent. Die Gründe dafür sind aber nicht nur genetisch. Kinder ahmen nach, was ihnen die Eltern vorleben. Wenn die Erwachsenen große Bissen machen, ihre Mahlzeiten nebenbei hinunterschlingen, viel Süßes und Limonade verdrücken, nehmen sich die Kinder das zum Vorbild.
Werbung: David gegen Goliath
Eine Kuh mit Brille, die mit einem Ohrwurm für einen Pudding wirbt; ein großer gelber Bär, der Kindern Fruchtgummi andreht, oder Influencerinnen, die auf TikTok einen Hype um quietschbunt verpackte Energydrinks auslösen: Kinder und Jugendliche werden mit Werbung überschüttet. „Warum lassen wir es zu, dass Kinder im Schnitt täglich 15 Werbespots für Zuckerbomben, salzige und fettige Snacks sehen?“, fragte der deutsche Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) im Februar – und kündigte ein Werbeverbot für solche Produkte in TV, Radio und Internet zwischen 6 und 23 Uhr an.
Ein striktes Werbeverbot fordern auch heimische Expertinnen und Experten seit Langem; bisher jedoch ohne Erfolg. „Es ist wie David gegen Goliath: Die Lobby, die sich für Kinder einsetzt, ist nicht milliardenschwer wie die Gegenseite“, sagt Daniel Weghuber, Vorstand der Uniklinik für Kinder- und Jugendheilkunde in Salzburg.
In der Politik fehlt offensichtlich das Problembewusstsein. Zwar entwickelte die Nationale Ernährungskommission im Gesundheitsministerium das sogenannte „Nährwertprofil zur Lenkung von
Lebensmittelwerbung an Kinder in audiovisuellen Medien“. Das Konzept würde die Werbung erheblich einschränken – wenn es nicht freiwillig wäre. „So kann das nicht funktionieren. Es braucht eine politische Entscheidung. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diesen Schritt nicht zu gehen“, sagt Adipositas-Experte Daniel Weghuber.
Medienministerin Raab sieht kein Problem
Zuständig für die Umsetzung wäre Medienministerin Susanne Raab (ÖVP). Aus ihrem Ministerium kommt auf profil-Anfrage folgende, angesichts des dramatisch steigenden Übergewichts bei Kindern schwer nachvollziehbare Antwort: „Für audiovisuelle Mediendiensteanbieter gibt es in Österreich seit Jahren ein etabliertes System einer Selbstkontrollverpflichtung. Die zuständige Regulierungsbehörde vergibt überdies Förderungen an Selbstkontrolleinrichtungen. Außerdem ist dieser auch über Wirksamkeit selbst auferlegter Verhaltensrichtlinien sowie etwaiger Beschwerden zu berichten. Vor diesem Hintergrund besteht in Österreich kein Handlungsbedarf.“
Was Verbote bringen, kann man indes in Großbritannien beobachten. Die britische Regierung führte 2018 eine Zuckersteuer für Limonaden ein, woraufhin die Produzent:innen den Zuckergehalt in den Getränken deutlich reduzierten. Der Erfolg kam prompt: Eine Studie mit Zehn- und Elfjährigen ergab, dass die Steuer bereits eineinhalb Jahre nach ihrer Einführung 5000 Fälle von Adipositas verhindern konnte.
Susanne Raab: Trotz des eklatant steigenden Übergewichts bei Kindern bestehe "kein Handlungsbedarf".
„Junkfluencer“ überall
Was können Eltern tun, bis sich die Politik endlich zum Handeln entscheidet? “Wichtig ist, für kleinere Kinder möglichst werbefreie Plattformen auszusuchen“, empfiehlt Matthias Jax von der Initiative Saferinternet.at. Wenn man YouTube verwende, dann solle man zumindest die App YouTube Kids herunterladen, „auch wenn da leider immer wieder unpassende Werbung durchrutscht“. Besser sind die vom WDR entwickelte Site mit dem Elefanten, das von Grazer Pädagoginnen zusammengestellte Miri-TV oder die Kinderangebote von Streamingdiensten wie Netflix oder Amazon Prime.
Auf TikTok, Instagram und Co wimmelt es nur so von sogenannten „Junkfluencerinnen“, die mehr oder weniger offen für ungesundes Junkfood werben. Drei Viertel der von Influencerinnen beworbenen Produkte verstoßen gegen die Webstandards für Kinder der Weltgesundheitsorganisation WHO, wie eine Untersuchung der Medizinischen Universität Wien kürzlich zeigte. Umso wichtiger ist es, dass sich die Eltern für die Idole aus dem Internet interessieren. „Sie müssen den Kindern erklären, dass der Online-Star nicht der beste Freund ist, sondern Geld verdienen will“, sagt Matthias Jax. Dann können Eltern und Kinder in den Videos gemeinsam nach Werbehinweisen suchen und Produktplatzierungen hinterfragen, zum Beispiel mithilfe eines Quiz“ auf der Website Saferinternet.at.
Nutri-Score: Die Lebensmittelampel
Wenn Vesna Stepovic vor dem Regal mit Frühstücksflocken steht, ist sie meistens ratlos. Welche Cerealien sind Zuckerbomben, welche sind für die Zwillinge vertretbar? Das auf den ersten Blick erkennbar zu machen, ist Ziel des 2017 in Frankreich entwickelten Nutri-Score. Anhand ihrer Inhaltsstoffe werden die Lebensmittel bewertet, vom grünen A (gesund) bis zum roten E (sehr ungesund). Seit Jahren wird in der EU über die verpflichtende Einführung der Lebensmittelampel gestritten. Große Produzenten wehren sich vehement, eine Einigung ist aktuell nicht in Sicht. Trotzdem ist der bunte Nutri-Score auch in heimischen Supermärkten öfter zu sehen, denn in mehreren EU-Ländern ist er schon Pflicht.
Fest steht: Der Nutri-Score beeinflusst die Kaufentscheidung signifikant in die richtige Richtung. Wie eine Studie der Uni Göttingen kürzlich zeigte, wirkt die Lebensmittelampel sogar irreführenden Angaben auf der Verpackung entgegen. Unternehmen erwecken mit Bannern wie „ohne zusätzlichen Zucker“ oft den Eindruck, Produkte seien gesünder, als sie tatsächlich sind, schreibt Studienautorin Kristin Jürkenbeck. Der Nutri-Score helfe den Konsumentinnen, solche Aussagen schnell zu entlarven. Andere Studien zeigen, dass auch Eltern mit wenig Bildung durch die Kennzeichnung automatisch zu den gesünderen Produkten greifen. Dabei geht es freilich nicht darum, den Salat statt der Fertigpizza zu kaufen, sondern sofort zu erkennen, welche der Pizzen die besseren Inhaltsstoffe hat.
Zuckerbomben: Babybrei und Quetschies
Ein Nutri-Score wäre vor allem für Kinderlebensmittel bitter nötig. Das Verbraucher-Magazin „Öko-Test“ hat Anfang des Jahres 40 Produkte für Kinder getestet, vom Fruchtjoghurt bis zum Ketchup. Die Ergebnisse sind erschreckend: Viele der Waren enthalten sogar mehr Zucker als ihre Pendants für Erwachsene. Die Autorinnen des Lebensmitteltests fordern ein Ende der verführerisch bunten Verpackungen mit Comicfiguren und Fehlinformationen darauf.
Besonders perfide seien Produkte für die Allerkleinsten, so „Öko-Test“: „Den Vogel schießen die Babynahrungsanbieter ab. Zu den als ‚bewusste Ernährung‘ beworbenen Beikostprodukten einer Marke im Test zählen zum Beispiel ein Babybrei mit Keksgeschmack zum Trinken und ab dem achten Monat ausgelobte Babykekse (beide gezuckert), wie auch der Milchbrei eines anderen Anbieters. Die ebenfalls oft schon für Säuglinge ausgelobten ‚Quetschies‘ ( Anm.: Quetschbeutel) sind teils ähnlich zuckerhaltig wie die Kekse.“
Für Familie Stepnic geht es indessen vom Spielplatz nach Hause zum Mittagessen. Die Eltern werden den Kampf um die Süßigkeiten noch oft führen müssen, bis die Zwillinge aus dem Gröbsten heraus sind. Aber: Vesna und Jova Stepnic haben Erfahrung. Ihr Erstgeborener ist bereits 22 und arbeitet im Management bei der Lebensmittelkette Hofer. Trotz des leichten Zugriffs hat er dort keine Vorliebe für Zucker entwickelt. „Er ist Gott sei Dank kein Süßer“, sagt Jova Stepnic.
Ist mein Kind zu dick?
Wann bei den Eltern die Alarmglocken schrillen sollten und was sie gegen das Übergewicht ihrer Kinder tun können.
gewichtig, liegt die Gefahr, dass das Kind ebenfalls zu stark zunimmt, bei 70 Prozent. Das liegt nicht nur an den Genen, sondern auch an den Essgewohnheiten der Eltern. Kinder ahmen nach, was ihnen die Eltern vorleben. Die Bildschirmzeit tut ihr Übriges: Mit jeder Stunde, die die Kinder täglich vor Laptop, Smartphone, TV oder PlayStation sitzen, steigt das Risiko, zuzunehmen.