Zungenbrecher: Wie steht's um Österreichs Gletscher?
Andrea Fischer schmilzt ihr Forschungsgegenstand buchstäblich unter den Füßen weg. Im März 2022 war die Glaziologin am Kaunertaler Gletscher, um Eisbohrkerne für das Klimaarchiv zu sichern. „Wir haben hier ungefähr ein Drittel weniger Schnee als in durchschnittlichen Jahren“, sagt Fischer. Für die darunter liegenden, teils Tausende Jahre alten Eisschichten ist das keine gute Nachricht. Der Gletscher der 3498 Meter hohen Weißseespitze beispielsweise verliert derzeit mehr Masse als je zuvor beobachtet. Fischer rechnet damit, dass die Eiskappe in etwa zehn Jahren komplett verschwunden sein wird.
4000 Gletscher gibt es aktuell in den Alpen. Wie viele werden erhalten bleiben? „Voraussichtlich werden am Ende dieses Jahrhunderts etwa 700 übrig sein. Die meisten davon allerdings in den Westalpen, nur sehr wenige werden in den Ostalpen überdauern“, sagt Andrea Fischer. Die großen, dicken Gletscherzungen, wie wir sie heute kennen, werden sehr wahrscheinlich der Vergangenheit angehören. Nur wenn es gelingt, die Erderwärmung durch -Sparmaßnahmen auf 1,5 Grad zu begrenzen, dann wäre es den Gletschern möglich, sich über die nächsten Jahrhunderte zu regenerieren.
Der aktuelle Gletscherbericht des Alpenvereins zeigt freilich den gegenteiligen Trend: In der Venedigergruppe wurde zuletzt mit einem durchschnittlichen Minus von 22,7 Metern der stärkste Längenverlust registriert, gefolgt von den Gletschern im Zillertal mit minus 15,5 Metern. Allein der Schlatenkees in der Venedigergruppe zog sich um 54,5 Meter zurück, die Pasterze am Großglockner um 42,7 Meter.
Die Gletscher sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst, sagt Günther Groß, der seit 50 Jahren für den Alpenverein das ewige Eis vermisst. „Damals waren sie noch mächtig und hell, ihre Fließstruktur klar sichtbar. Heute sind die Gletscher hingegen meist schlaff daliegende, von Schuttablagerungen bedeckte und schwindende Reste jenes ursprünglich imposanten Phänomens“, so Groß.
Was aber passiert, wenn der Rückgang der Gletscher ungebremst weitergeht? Das rasche globale Abschmelzen trägt wesentlich zum Anstieg des Meeresspiegels bei. In unseren Breiten kommt es zu häufigeren Vermurungen und Überschwemmungen. „Die fehlenden natürlichen Wasserspeicher im Gebirge führen in weiterer Folge zu regionaler Trockenheit“, sagt Ingrid Hayek, Vizepräsidentin des Österreichischen Alpenvereins.
Jedes Jahr zwischen Jänner und Juni bergen Andrea Fischer und ihr Team durch Tiefenbohrungen Eisschichten, die bis zu 6000 Jahre alt sind. An den Bohrkernen lässt sich vieles ablesen: etwa, dass Teile der Ostalpen in dieser Zeitspanne durchgehend vergletschert waren. Dennoch gab es wärmere und kältere Perioden, in denen sich auch die Vegetation änderte, wie eingefrorene Pollen verraten. „Wir können daraus lernen, welche Pflanzen im Alpenraum in den nächsten Jahrzehnten existenzfähig sind“, sagt Fischer. Wie sollte ein Schutzwald künftig aussehen, um Erdrutsche, Lawinen und Muren möglichst effektiv zu verhindern? Darauf wollen Fischer und ihr Team in den nächsten Monaten Antworten finden.
Hautreste, Fäkalien, Haare: Anhand von DNA-Spuren im Eis können auch Menschen und Tiere aus vergangenen Jahrtausenden studiert werden. „Sofern genügend Material vorhanden ist, ist es möglich, vergangene Seuchen zu rekonstruieren“, sagt Fischer. Und sie erhofft sich Hinweise, wie der Mensch in der Vergangenheit mit Klimaveränderungen umgegangen ist.
Nur zehn Kilometer von der Weißseespitze entfernt – dem wichtigsten Gipfel zur Entnahme von Bohrkernen – befindet sich Ötzis Fundstelle. Der Mann aus der Jungsteinzeit markiert einen wichtigen Eckpunkt der Klimageschichte: Denn das Eis am Tisenjoch, wo er gefunden wurde, sowie auf den umliegenden Gletschern bildete sich erst nach seinem Tod vor etwa 5200 Jahren. Ebenfalls wichtige Gipfel für das Sammeln von Eisarchiven sind der Hallstätter Gletscher am Dachstein, der Großvenediger in den Hohen Tauern, die Silvretta und die Sonnklarspitze in Südtirol.
Angst, arbeitslos zu werden, hat Glaziologin Fischer indes nicht. „In den österreichischen Alpen verstecken sich einige Gletscher unter einer dicken Schutzschicht. Dort müssen wir auch die nächsten Jahrzehnte genau hinschauen, weil dieses Eis unterhalb der Oberfläche auch Probleme machen kann in Bezug auf Massenbewegungen, also das Abrutschen von Gestein auf diesen Eisschichten.“ Und da wären ja auch noch die Eisbohrkerne, die in der Arktis aufbewahrt werden sollen – als Studienobjekte für künftige Forschergenerationen.