Hoffnung mit Methode
Es war das Jahr 1976, und der Dichter Heiner Müller war nicht gut drauf.
In seinem Milieu, dem der systemkritischen Künstler und Intellektuellen in der DDR, herrschte eine niedergeschlagene Stimmung. Das SED-Regime unter der Führung von Erich Honecker hat den Liedermacher und Poeten Wolf Biermann nach dessen Kölner Auslandskonzert in der BRD nicht mehr zurück ins Land gelassen. Ausgesperrt zu werden aus der DDR, das war schon ein wenig schräg.
Üblich war, dass Millionen aus dem „Arbeiter- und Bauernparadies“ so schnell wie möglich abhauen wollten, was aber „Republikflucht“ und damit verboten war. Versuchten sie es trotzdem, hetzte die Volksarmee ihnen Schäferhunde nach und schoss den eigenen Bürgerinnen und Bürgern in den Rücken. Stacheldraht und Minenfelder markierten die Grenze.
Selbst wer sie überwand, war immer noch nicht sicher. Stasi-Agenten im Westen brachten bei Gelegenheit flüchtige DDR-Bürger um oder entführten und verschleppten sie wieder in den Osten, wo sie eingekerkert oder gar ermordet wurden.
Biermann hatte so gesehen Glück. Das Regime war froh, ihn los zu sein. Doch in Freiheit war er, getrennt von Freunden, Familie und der Kultur, in der er aufgewachsen war, nicht. Und: Sein Rauswurf signalisierte auch, dass der Widerstand unter den Künstlern und Intellektuellen nichts wert war. Wir hören euch ab, sperren euch ein, schmeißen euch ins Loch oder werfen euch raus. Aber nichts wird sich ändern.
Die Hoffnung war gebrochen. Sie aber ist die wichtigste Waffe aller, die nicht wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Ihre Munition heißt Zuversicht. Kein Zweifel: Die Opposition war entwaffnet worden.
„Optimismus“, notierte Müller, „ist nur ein Mangel an Informationen.“
Das ist nachvollziehbar. Und falsch.
Bis zum Ende der DDR sollten noch 13 lange Jahre vergehen, das stimmt. In diesen Jahren aber erwies sich die Hoffnung nicht als Illusion, sondern als zähes Luder. Sie hatte fest vor, tatsächlich zuletzt zu sterben, nach all dem, was im Land geschehen war und immer noch geschah. Und am Ende kam die Wende nicht, weil Intellektuelle und geistige Eliten verzagten und keine Zuversicht mehr hatten, sondern weil ganz einfache Leute in Berlin und Leipzig und anderswo die Schnauze gestrichen voll hatten, endlich auch reisen wollten, raus aus dem Mief, „rübermachen“, wie es im Jargon heißt. Das Alte ging, die Wende kam, da war viel Hoffnung, manche davon war begründet, andere nicht. Aber kein Quadratmeter der alten DDR, der in den Neuen Bundesländern nicht besser geworden wäre. Dass Hoffnung und Optimismus ein Mangel an Informationen sind, ist ein Mangel an Informationen.
Lange vor Biermann und Müller und der Wende danach schrieb der Philosoph Ernst Bloch sein berühmtes Buch „Das Prinzip Hoffnung“, und zwar unter scheinbar ganz hoffnungslosen Bedingungen. Bloch begann seine Arbeit im Jahr 1938, in dem Hitler auf dem Höhepunkt seiner Macht war, Österreich und die Tschechoslowakei annektiert hatte und sich auf den großen Krieg vorbereitete. Fertiggeschrieben hat er es 1947, als Hitler tot und das Dritte Reich in Schutt und Asche lag. An seinem Ende steht, was Müller übersah und mit ihm die nächste und heute übernächste Generation an Zukunftspessimisten, die meinen, schon jetzt sei alles verloren und der Untergang sei eigentlich beschlossene Sache. Solche Generationen sind immer die letzte Generation, das war auch in den 1940er-Jahren so. Bloch machte das wütend. Man möge sich gefälligst, so endet das Buch, nicht ständig ins Scheitern, sondern „ins Gelingen verlieben“. Bei Bloch hat das Hand und Fuß. Er ist ein unorthodoxer Marxist, einer, der Karl Marx dort verehrt, wo er im „Kommunistischen Manifest“ die Grundlagen aller Transformation und Zeitenwende beschreibt, bei dem „alle festen, eingerosteten Verhältnisse (...) aufgelöst werden“ und die Menschen endlich gezwungen wären, „ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“. Diesen pragmatischen Teil von Marx konnte er leiden, doch die Geschichte mit den Utopien und Visionen, bei denen immer alles auf den Kopf gestellt werden musste, gestürzt und umgebracht, die war Bloch zuwider. Denn das, so wusste er, war stets die Ausrede aller Diktatoren, die das Blaue vom Himmel versprachen, ohne die Absicht, ihre Ankündigungen jemals wahrzumachen. Utopien sind ein Taschentrick, eine Ablenkung von der Tatsache, dass die Arbeit der Veränderung, ganz gleich wo, nüchtern geschehen muss, eine Anstrengung ist, keine ausgelassene Party.
Dass Blochs Meisterwerk „Prinzip Hoffnung“ heißt, ist kein Zufall. Ein Prinzip ist keine vage Angelegenheit, keine Sehnsucht, keine leidenschaftliche Erwartung in ein Etwas, das sich wie ein Wunder vollziehen muss. Im Gegenteil. Ein Prinzip ist eine Regel, eine Grundlage für das eigene Verhalten, Entscheiden und Handeln. Hoffnung als Prinzip – das ist eben nicht jenes blinde Vertrauen, das auch heute wieder von so vielen in so vielem gefordert wird. Es ist das Vertrauen der Aufklärung, das man Zutrauen nennt. Damit das klappt, stellen wir das, was wir tun, auf eine geregelte Grundlage, auf ein Fundament aus Fakten, und ergänzen die Unsicherheit, die bei allem Künftigen gehen wird, durch Optimismus. Das Prinzip Hoffnung ist nicht leichtsinnig, nicht revolutionär, sondern so nüchtern, wie es geht, so überlegt wie möglich und eng verbunden mit der Geschichte der modernen Wissensarbeit. Wissenschaft und Forschung basieren auf Versuch und Irrtum, und zwar nicht einfach hopplahopp, sondern systematisch. Das heißt, dass wir aus Fehlern lernen, und das ist ganz und gar nicht im Sinne der Stuhlkreissprache gemeint, bei der Patzer sozusagen weggelobt werden. Wenn etwas falsch gelaufen ist, dann gibt das wertvolle Hinweise darauf, wie es richtig geht. Das gilt für Technik und Energie und Verkehr und Wirtschaft und überhaupt alles, was Menschen angeht. Blochs Prinzip Hoffnung ist deshalb so großartig, weil es uns zeigt, dass trotz aller Rückschläge, trotz allen Elends, das sich zeigt, so etwas wie Fortschritt existiert – und dieser Fortschritt gut ist.
Das ist das Gegenteil des alten Aberglaubens und des Schicksals, das bis zur Aufklärung herrschte und bei dem der Mensch eben dort bleiben musste, wo er war, ganz gleich ob oben oder unten, glücklich oder elend. Natürlich gefällt das den Leuten, die Angst und Pessimismus als politisches Stilmittel benutzen, eher nicht. Da braucht es immer eine Hölle, da braucht es immer eine Strafe. Tatsächlich aber brauchen wir, wenn wir Bloch ernst nehmen, nur ein wenig Verstand und eine halbwegs gute Kenntnis der Menschheitsgeschichte. Ja, die Welt ist nicht nur gut, es gibt Idioten und Totschläger und Gefahren und Betrug. Aber sie ist bei Weitem nicht so schlecht, wie sie schon einmal war, diese Welt. Bloch nennt seine Zuversicht „Konkrete Utopie“, die eben keine Illusionen erzeugt, sondern faktenbasiertes Handeln. Mit der romantischen Sichtweise von Weltverbesserern und Weltrettern hat das wenig zu tun, es ist eine nüchterne Bestandsaufnahme, die uns hilft, weiterzukommen und unsere Beziehungen zu der Welt, die wir geschaffen haben, realistisch zu sehen, nüchtern also, nicht besoffen. Das Prinzip Hoffnung ist eine Kompassnadel, die dabei immer wieder neu eingenordet werden muss. Das ist mühsam, aber so ist es nun mal. Zukunft ergibt sich nicht von selbst, sie wird gemacht. Alles andere ist nur Schicksal.
Blochs Hoffnungen in die Technik, etwa in die Segnungen der Atomkraft, mögen heute etwas naiv anmuten. Wir wissen heute mehr, als er es konnte. Aber das ändert auch nichts daran, dass viele Menschheitsprobleme immer noch jede Menge bessere Technologie vertragen können, unübersehbar bei der Frage des Klimawandels. Zu dieser Technologie gehören nicht nur Methoden, Maschinen und Erfindungen, sondern auch eine neue Kultur, bei der wir uns klarmachen müssen, dass, wie Nestroy es sagte, zu Tode gefürchtet auch gestorben ist.
Nein, es braucht auch kein Aufbruchsgebrüll, eben nicht. Es braucht mehr Bildung. Mehr Zugang zu Wissen, das bekanntlich Macht ist, so wie dessen Abwesenheit Ohnmacht erzeugt. Wir brauchen keinen Trost, sondern Neugierde.
Lest Blochs „Prinzip Hoffnung“, Hannah Arendts „Vita Activa“, Viktor Frankls „Und trotzdem Ja zum Leben sagen“ oder Hans Roslings „Factfulness“, eines der Lieblingsbücher Barack Obamas. Schaut euch die Arbeit von Max Roser und seinem Team in Oxford an – „ourworldindata.org“ ist eine Quelle der nüchternen Bestandsaufnahme, Informationen, die den Mangel an Optimismus beseitigen.
Wunder gibt es immer wieder?
Vergiss Katja Ebstein, nimm die Beatles: We can work it out.
Wir kriegen das schon hin, weil wir rausfinden, wie das geht.
Das ist der Sound der Zuversicht. Klingt schon besser, was?