Corona-Experten zu Kanzler Kurz: „Pandemie ist für keinen vorbei“
Die Pandemie ist für alle vorbei, die geimpft sind.
Größtenteils falsch
Update: Am 19.11.2021 verkündeten Bundeskanzler Schallenberg und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein einen neuerlichen allgemeinen Lockdown.
Niemand überbringt gerne schlechte Nachrichten – das ist bei Spitzenpolitikern nicht anders. Pandemie, Lockdowns, Maskenpflicht und andere unpopuläre Maßnahmen kratzten am Image der Regierung. Man merkt den Spitzen der Republik an, dass sie gerne gute Neuigkeiten vermitteln würden.
Bundeskanzler Sebastian Kurz wollte der Erste sein, der die frohe Botschaft verkündet – und in mehreren Interviews erklärte: „Die Pandemie ist für Geimpfte vorbei“. Mehr noch, die ÖVP plakatierte im Sommer sogar den Slogan: „Die Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft: Endlich wieder miteinander.“ Zuletzt wiederholte der Kanzler das Wording zur beendeten Pandemie für Vollimmunisierte bei seiner USA-Reise in der Vorwoche.
Dass die Opposition dem Kanzler widerspricht, ist politisches Geplänkel und taugt noch nicht als Gegenbeweis. faktiv, der Faktencheck von profil, telefonierte für diese Recherche die renommiertesten Expertinnen und Experten zur Coronapandemie durch, die Österreich aufzubieten hat. Darunter auch Berater von Kanzler Kurz. Keiner von ihnen stimmte der Aussage des Kanzlers zu. Im Gegenteil.
„Die Aussage stimmt so nicht“
Ein Blick auf die Zahlen zeigt zunächst, dass die Pandemie für Geimpfte nicht ganz vorbei ist, denn auch vollständig geimpfte Personen können an Covid-19 erkranken. Laut AGES wurden unter den 5.168.332 Personen mit vollständiger Impfung bisher 13.075 Fälle an Impfdurchbrüchen gemeldet (Daten der AGES wurden seit KW 5 kumuliert). Das sind 0,25 Prozent. Anders ausgedrückt: Auf 1.000 vollständig geimpfte Personen kommen somit rund drei Personen mit einem Impfdurchbruch (Stand: 28. September 2021). Das belegt zwar, dass die Corona-Schutzimpfung sehr gut wirkt, aber eben nicht alle Menschen gleichermaßen schützt. Simulationsforscher Nikolas Popper, der die Bundesregierung berät, sagt: „Die Impfung wirkt nicht zu 100 Prozent und daraus ergibt sich, dass die Aussage (von Kurz, Anm.) so nicht stimmt. Es gibt Menschen, bei denen die Impfung nicht greift. Und in gesamter Konsequenz sehen wir, dass nach wie vor Menschen auf den Intensivstationen liegen. Epidemien sind eine gesellschaftliche Herausforderung und kein Einzelkampf.“ Kurz bleibt bei seinem Wording, obwohl Popper festhält, er habe „dem Bundeskanzler das auch gesagt“: „Solange wir keine Herdenimmunität erreicht haben, existiert die Epidemie.“
Komplexitätsforscher Peter Klimek ergänzt: „Die Zirkulation des Virus unter Geimpften ist an sich nicht besorgniserregend, weil diese ein sehr geringes Risiko für einen schweren Verlauf haben. Aber natürlich können circa zehn Prozent einen schweren Verlauf haben, also kann es mich erwischen.“ Insbesondere für Personen mit geschwächtem Immunsystem sei das Risiko nicht vorbei.
Geimpfte auf Intensivstationen
Dazu kommt: Aktuelle Zahlen der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) zeigen, dass 16,7 Prozent der Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen doppelt geimpft sind (Stand: 28. September 2021, Daten für Wien vom 14. September 2021). Demnach haben Ungeimpfte ein deutlich höheres Risiko auf schwere, lebensbedrohliche Krankheitsverläufe. Aber auch für einige wenige Geimpfte kann das Virus eine ernstzunehmende Bedrohung darstellen.
Todesfälle unter Geimpften sind die Ausnahme; und doch gibt es sie. Von der GÖG heißt es dazu: „Gemäß Epidemiologischen Melderegister (EMS) waren etwa 1,7 Prozent aller Todesfälle (180 der gesamt 10.762) bereits vollständig geimpft. Davon waren mehr als die Hälfte (93 Personen) 85 Jahre oder älter (Stand: 29. September 2021).“
Operationen müssen verschoben werden
Und es gibt durch die Pandemie auch noch eine indirekte Gefahr für Geimpfte, erklärt der Epidemiologe Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems: „Solange die Gefahr besteht, dass Krankenhäuser überlastet werden und auch Geimpfte in Situationen kommen, dass Operationen verschoben werden und Intensivstationen voll sind, weil Ungeimpfte dort sind: Solange ist die Pandemie für Geimpfte nicht vorbei.“ Zuletzt kam es in mehreren Krankenhäusern zu Verschiebungen von Operationen. Etwa in Wien, wo Anfang September einige Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenze angelangt waren.
„Es fehlen 10 Prozent, dann ist Pandemie vorbei“
Die Virologin Dorothee von Laer von der Medizinischen Universität Innsbruck widerspricht dem Kanzler am deutlichsten: „Weil Geimpfte das Virus an Ungeimpfte oder nicht-immune Personen weitergeben können, ist die Pandemie für keinen vorbei, weil alle noch aufpassen müssen.“ Schließlich sei das Virus noch in der Bevölkerung und die Maßnahmen gegen den Erreger müssten weitergetragen werden: „Die Maßnahmen gelten nicht nur für Ungeimpfte.“ Wann ein Ende in Sicht ist, prognostiziert von Laer so: „Die Pandemie ist erst vorbei, wenn das Virus im ganzen Land unter Kontrolle ist, also wenn wir gut über 80 Prozent Immune haben.“ Derzeit sind etwa 61 Prozent der Bevölkerung geimpft und etwa zehn Prozent genesen. Von Laer: „Es fehlen zehn Prozent, dann ist die Pandemie für alle vorbei.“ Eine höhere Durchimpfungsrate, wie etwa in Dänemark oder England, sei der Schlüssel zum Erfolg, meint die Expertin und übt gleichzeitig scharfe Kritik: „Österreich und Deutschland sind da ganz hinten bei den entwickelten Staaten – das ist peinlich.“
Komplexitätsforscher Peter Klimek sieht ein mögliches Ende der Pandemie in folgendem Szenario als erreicht an: „Man braucht eine hinreichende Immunität, also genügend geimpfte oder genesene Personen, so dass sich der Anstieg der Infektionen verzögert und sich eine saisonale Welle wieder abbaut, bevor es eine systemkritische Auslastung im Gesundheitssystem gibt.“ Wann das so sein wird? „Das sehe ich erst frühestens Ende des Jahres.“ Und die Virologin Monika Redlberger-Fritz meint: „Früher oder später wird es eine ganz normale Zirkulation eines respiratorischen Virus werden, das wir auch von anderen Viren kennen. Wann das sein wird? Wenn genügend Leute eine Impfung erhalten haben oder natürliche Immunität erlangen.“
Fazit
Kurz‘ Aussage ist als größtenteils falsch einzustufen. Warum? Die Impfung wirkt eindeutig, jedoch nicht zu 100 Prozent. Impfdurchbrüche sind nicht auszuschließen, Aufenthalte auf Intensivstationen auch nicht. Solange das Virus zirkuliert, besteht auch für einige wenige Geimpfte eine direkte Gefahr. Und auch sonst sind geimpfte Personen weiter von der Pandemie betroffen: Für sie gelten die gängigen Schutzmaßnahmen und durch die geringe Impfquote im Land kann es aktuell zu Verschiebungen von Operationen kommen.