Corona-Impfung: Nein, die Öffentlichkeit wurde nicht belogen

Die FPÖ und andere Rechtsparteien behaupten, dass die Welt über Nutzen und Wirkung der Covid-Impfstoffe getäuscht wurde. Die Fakten erzählen aber eine ganz andere Geschichte.

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Spätes EMA-Geständnis beweist, dass Corona-Impfung nie vor Ansteckung schützte.

Gerhard Kaniak, FPÖ-Gesundheitssprecher

Falsch

Die Empörung kannte kaum Grenzen. Rechtsgerichtete europäische Politikerinnen und Politiker trommelten jüngst in Presseaussendungen und auf Social Media, sie seien auf einen Skandal gigantischen Ausmaßes gestoßen. „Spätes EMA-Geständnis beweist, dass Corona-Impfung nie vor Ansteckung schützte“, betitelte FPÖ-Gesundheitssprecher Gerhard Kaniak eine Presseaussendung vom 3. Dezember. Es sei nun amtlich, so Kaniak weiter, dass „Schikanen wie 3G und der Lockdown für Ungeimpfte niemals der Eindämmung des Virus dienen konnten“.

Dagmar Häusler von der ursprünglich vor allem als Impfgegnerpartei in Erscheinung getretenen MFG Österreich witterte eine „politische und rechtliche Bombe“. Alle Covid-Maßnahmen hätten auf „Lüge und Täuschung“ beruht. Denn: „Nun bestätigt die EMA: Es gab nie einen Wirkstoff, mit dem man die Übertragung hätte verhindern können.“

Manche Medien übernahmen das Skandalgeschrei unreflektiert. „EMA enthüllt ‚schockierende Fakten‘: War die Corona-Impfkampagne berechtigt?“, schrieb die „Berliner Zeitung“. Die Schweizer „Weltwoche“ setzte mühelos eins drauf und textete: „Europas oberste Medizinbehörde entlarvt die Covid-Impfung als Farce – und keiner regt sich auf.“ Der Autor schwang sich zu kühnen Superlativen auf und fuhr fort: „Es ist wahrscheinlich der größte Skandal, den die Welt je gesehen hat.“

Schockierende Fakten? Kaum

Der größte Skandal aller Zeiten, und die Welt hätte davon (ohne den heroischen Einsatz der FPÖ und ähnlich gesinnter Parteien) nichts mitbekommen? Eher nicht. Die zitierten Äußerungen und Schlagzeilen haben eines gemeinsam: Sie sind allesamt falsch. Die EMA, die European Medicines Agency, hat kein Geständnis abgelegt und auch keine „schockierenden Fakten“ enthüllt. Von „Lüge und Täuschung“ kann keine Rede sein, und es existiert sehr wohl ein Wirkstoff, der Übertragungen verhindern kann. Kurz: Es hat sich durch die vermeintlichen Enthüllungen an der bisherigen Sachlage zum Thema Covid-Impfungen nichts geändert.

Aber der Reihe nach: Am 18. Oktober beantwortete die Medizinbehörde EMA, die auf europäischer Ebene für die Zulassung und Prüfung von Arzneimitteln zuständig ist, eine Anfrage von acht Mitgliedern des EU-Parlaments. Darunter waren der Niederländer Marcel de Graaff, ein Weggefährte von Geert Wilders, zwei AfD-Abgeordnete und Virginie Joron, Politikerin des Rassemblement National. Die Fragen bezogen sich auf Covid-Impfstoffe wie die beiden Produkte „Comirnaty“ und „Spikevax“.

Das Antwortschreiben ist sehr ausführlich, umfasst sieben Seiten und zahlreiche Literaturverweise. Herausgegriffen und skandalisiert wurde jedoch besonders ein Satz. Er lautet: „You are indeed right to point out that COVID-19 vaccines have not been authorized for preventing transmission from one person to another.“ Die EMA pflichtet also bei, dass die Covid-Impfstoffe nicht für den Zweck zugelassen wurden, Übertragungen des Virus zu verhindern.

Ist das ein „spätes Geständnis“? Gibt die EMA plötzlich und erst durch hartnäckiges Nachbohren der Parlamentsmitglieder zu, dass die Impfstoffe für einen ganz anderen Zweck zugelassen wurden als ursprünglich behauptet? Wurde die europäische Öffentlichkeit jahrelang über Funktion und Nutzen der Präparate getäuscht und belogen? Nein, keineswegs. Die EMA fasst in ihrem Antwortschreiben schlicht zusammen, was immer schon klar, bekannt und von Anfang an geplant war: Kriterien für die Zulassung waren der Schutz vor einer Erkrankung sowie die Sicherheit der Impfstoffe. Die Frage einer Übertragbarkeit von Person zu Person war ebenso wenig Thema der Zulassungsstudien wie der Umstand, ob die Impfung davor schützt, sich mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 anzustecken.

Längst bekannte Informationen

FPÖ-Sprecher Kaniak begehrt nun in seiner Aussendung zu wissen, seit wann diese Information vorgelegen sei. Die Antwort darauf ist einfach: seit dem 31. Dezember 2020. An diesem Tag erschien – frei zugänglich im Internet – im Fachjournal „New England Journal of Medicine“ die komplette Zulassungsstudie für den Impfstoff BNT162b2, heute unter dem Markennamen „Comirnaty“ bekannt und von BioNTech/Pfizer hergestellt. Der Titel der Studie lautete: „Safety and Efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine“. Hier ein Auszug daraus:

Im 13 Seiten umfassenden Text wird genau erklärt, dass mehr als 43.000 Probanden den Impfstoff verabreicht bekamen, in zwei Dosen in einem Abstand von 21 Tagen. Weiters formuliert das Autorenteam präzise, was in der Studie getestet wurde: „The primary and end points were efficacy of the vaccine against laboratory-confirmed Covid-19 and safety.“ „Endpunkte“ werden in medizinischen Studien die Ziele einer Arbeit genannt, also das, was man herausfinden möchte. Im konkreten Fall waren das Schutz vor der Erkrankung Covid-19 – einer symptomatischen Infektion – sowie die Abklärung der Sicherheit des Impfstoffs.

Weil die Tests für beide Endpunkte positiv ausfielen – gegen die damals zirkulierenden Varianten des Coronavirus bot die Impfung einen 95-prozentigen Schutz –, hatte die EMA eine Grundlage für die Zulassung. Inwiefern die Impfung eine Übertragung auf weitere Personen verhindern könnte, war weder Gegenstand der Studien noch des Zulassungsverfahrens. „Soweit mir erinnerlich, hat auch kein seriöser Wissenschafter je behauptet, dass die Impfung zugelassen wurde, um vor einer Übertragung zu schützen. Es ging immer um den Schutz vor Krankheit und schweren Verläufen“, so der Wiener Virologe Norbert Nowotny.

Das Strohmann-Argument

Dass nun Gerhard Kaniak (der immerhin ein Pharmaziestudium absolviert hat) und Gleichgesinnte Studien- und Zulassungsdaten skandalisieren, die seit drei Jahren öffentlich zugänglich sind, erscheint etwas befremdlich – und lässt darauf schließen, dass sie sich entweder mit den Originalarbeiten nie befasst haben, diese ignorieren oder nicht verstanden haben. Vielleicht handelt es sich aber auch um einen Fall von „Strawman fallacy“, des sogenannten „Strohmann-Arguments“: Dabei stellt man eine Behauptung in den Raum, die nie ein seriöser Mensch erhoben hat – nur um sie dann großspurig zu widerlegen.

Heißt das aber nun, dass wir nichts darüber wissen, ob sich geimpfte Personen seltener anstecken und das Virus weniger leicht übertragen können? Nein, das bedeutet es nicht. Denn die EMA sagt ja nicht, dass es keine Studien dazu gibt. Sie sagt bloß, dass die Frage der Übertragung des Virus nicht Teil des Zulassungsverfahrens war.

Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Studien und Analysen, die sich damit befassen. Die ersten Arbeiten dazu begannen gleich nach der Einführung der Impfung. Die Forschenden begründeten sie schon damals auch damit, dass die Beantwortung der Frage, ob die Impfstoffe Ansteckungen, Übertragungen des Virus und folglich Infektionsketten verhindern können, wichtig für politische Entscheidungen über Covid-Maßnahmen sei. Erste Studien erschienen Anfang 2021, jüngere Daten und Zusammenschauen zum Thema im Lauf des Jahres 2023. Die meisten Untersuchungen sichteten Daten aus den Jahren 2021 und 2022.

Die Studien wurden in „Real life settings“ in verschiedenen Ländern durchgeführt, darunter in Belgien, Israel (siehe Studienausschnitt unten), England, Schottland und den USA: in Pflegeeinrichtungen, Haushalten und unter Mitarbeitern des Gesundheitswesens. Teils wurden nationale Gesundheitsdaten ausgewertet, etwa von rund 25.000 Personen in Dänemark. Weitere Studien zum Thema finden sich zum Beispiel hier und hier und hier.

Wie sehr die Impfungen, meist ging es um die Wirkung des Impfstoffs BNT162b2, Ansteckung und Übertragung unterbinden, hing von zahlreichen Faktoren ab: etwa von der jeweils zirkulierenden Virusvariante (jüngere Arbeiten schließen auch Omikron mit ein), von der verstrichenen Zeit zwischen Impfung und Viruskontakt (mit der Zeit schwindet der Impfschutz, was „waning“ heißt) und der individuellen Viruslast einer bestimmten Person.

Studien belegen reduzierte Übertragung

Abhängig von all den Variablen und dem jeweiligen Setting konnte gezeigt werden, dass die Impfungen eine Ansteckung beziehungsweise weitere Übertragung des Virus um knapp 30 bis mehr als 90 Prozent verhindern. „Eine genaue Quantifizierung ist schwierig, weil viele Faktoren eine Rolle spielen, aber es besteht wissenschaftlicher Konsens, dass mindestens in den ersten Wochen nach der Impfung bis zu einem gewissen Grad Schutz vor Ansteckung und Übertragung besteht“, sagt Nowotny. Das Fachjournal „British Medical Journal“ berichtete für englische Haushalte, dass schon nach einer einzelnen Impfdosis die Übertragungen um 40 bis 50 Prozent reduziert wurden.

Mit anderen Worten: Es steht heute außer Streit, dass die Impfung gegen Covid-19 nicht nur vor der Erkrankung schützt, sondern bis zu einem gewissen Ausmaß auch Ansteckung und Übertragung unterbindet.

Es besteht wissenschaftlicher Konsens, dass mindestens in den ersten Wochen nach der Impfung bis zu einem gewissen Grad Schutz vor Ansteckung und Übertragung besteht.

Norbert Nowotny, Virologe

Ob die rechtspopulistischen EU-Abgeordneten all diese Daten, die ebenfalls im Volltext frei verfügbar zugänglich sind, bloß übersehen haben, lässt sich nicht beantworten. Manches deutet allerdings darauf hin, dass sie die Materie nicht vollumfänglich durchdrungen haben. Aus einer der Antworten im EMA-Schreiben lässt sich ableiten, dass die Abgeordneten wissen wollten, wieso denn die Registrierung eines Antigens fehle. Eine Impfung müsse ein solches enthalten, und dieses erfordere eine eigene Registrierung. Wurde hier ein grobes Versäumnis, eine Verletzung der Vorschriften aufgedeckt? Nein, denn der Clou an mRNA-Impfungen ist ja eben, dass kein Antigen erforderlich ist.

Was kompliziert klingt, ist im Grunde ganz einfach: Antigene sind generell Fremdstoffe, mit denen der Körper konfrontiert ist. Bei klassischen Impfstoffen ist das Antigen meist ein Oberflächenbestandteil eines Virus, mit dem das Immunsystem zwecks Abwehr trainiert wird. mRNA-Impfungen funktionieren aber anders: Der Trick ist, dass kein Virusbestandteil verabreicht wird, sondern der Organismus dank Impfung selbst jenen Stoff (das Spike-Protein) produziert, den er für die Immunantwort braucht. Somit: kein Antigen, folglich auch nichts, das man registrieren könnte.

Fazit

Beide Teile von Gerhard Kaniaks Aussage sind nicht nur irreführend, sondern falsch: Erstens hat die EMA kein „Geständnis“ abgelegt. Sie hat lediglich zusammengefasst und wiederholt, was immer schon öffentlich bekannt war. Ob die Impfungen gegen das Coronavirus vor Ansteckung und Übertragung schützen, war nicht Thema des Zulassungsverfahrens. Die EMA hat das auch nie behauptet. Zweitens: Es ist nicht zutreffend, daraus abzuleiten, dass die Impfung nie vor einer Ansteckung schützte. Das tut sie sehr wohl, wenn auch nicht hundertprozentig, sondern nur bis zu einem gewissen Grad, abhängig von mehreren Einflussfaktoren.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft