Der heilige Martin war sozialistischer als Nehammer denkt
Der heilige Martin hat seinen Mantel mit einem Armen geteilt. Seinen, nicht den eines anderen. Das wäre Sozialismus.
Irreführend
Abgrenzung bringt Orientierung. Wer seine Feinde klar benennen kann, weiß auch besser, wer er selbst ist. Für einen waschechten ÖVP-Mann ist der Hauptgegner immer noch der „Sozialismus“, worunter er naturgemäß auch die Sozialdemokratie versteht.
Jene zwei ÖVP-Chefs, die der SPÖ mithilfe der FPÖ das Kanzleramt abluchsten, waren erwiesenermaßen „Sozi-Fresser“. Wolfgang Schüssel ist zwar kein geborener ebensolcher, musste aber in einer Koalition unter SPÖ-Führung zusehen, wie die ÖVP immer schwächer wurde. 2000 koalierte er mit der FPÖ und wurde Kanzler. Sebastian Kurz machte von Beginn an klar, dass Rot für ihn die Farbe einer Linie ist, die man keinesfalls überschreiten darf.
Und nun Karl Nehammer: Eigentlich gilt der neue ÖVP-Obmann ja als „Konsens-Karl“. Beim jüngsten Parteitag in Graz versuchte er sich jedoch als „Aggro-Hammer“ und attackierte die Linken mit Verweis auf eine populäre Legende aus dem Reich der Religion: „Der heilige Martin hat seinen Mantel mit einem Armen geteilt. Seinen, nicht den eines anderen. Das wäre Sozialismus.“
Damit sprach Nehammer zwei zentrale bürgerliche Werte an: Eigentum und Solidarität, und wie laut katholischer Soziallehre Ersteres zu Letzterem verpflichtet. Die Sozialdemokraten hingegen, so die ÖVP-Kritik, würden immer nur fremdes Geld verteilen und sich dafür mit großer Geste als soziale Fortschrittspartei feiern lassen. Dass dies ein roter Irrweg sei, würde nach Nehammers Lesart das Vorbild des heiligen Martin belegen. Der Schutzpatron der Armen gab seinen eigenen Besitz und war daher mit Sicherheit kein Sozialist.
Doch so einfach ist die Sache nicht. Offenbar hat sich Karl Nehammer noch nie darüber Gedanken gemacht, warum Martin, Offizier im Dienste des römischen Kaisers Konstantin II., um das Jahr 350 dem nackten Bettler am Stadttor von Amiens nur seinen halben Soldatenmantel gab. Ein Heiliger, der etwas auf sich hält, würde wohl seinen ganzen verschenken. Etwas dürfte an den Eigentumsverhältnissen also nicht stimmen. Gehörte ihm der Mantel gar nicht? Hat Martin am Ende fremden Besitz verschenkt?
Die Antwort: Die Ausrüstung eines römischen Soldaten gehörte zur einen Hälfte diesem selbst und zur anderen Rom. Nun könnte Nehammer argumentieren: Eben! Martin hat seinen Anteil am Mantel verschenkt und den römischen aus Respekt gegenüber fremden Eigentum behalten. Weil er eben kein Sozi ist! Ein Sozi-Anwalt würde allerdings einwenden: Martin und Rom sind jeweils Miteigentümer des Mantels, daher können sie über diesen nur gemeinsam verfügen. Indem Martin den Mantel zerteilte und dadurch zerstörte, hat er seinen Miteigentümer geschädigt und eventuell sogar eine Straftat begangen. Nach ÖVP-Verständnis tun so etwas nur Linke. Ein Bürgerlicher hätte um Erlaubnis gefragt, bevor er etwas verschenkt, was ihm nur teilweise gehört.
Fazit
Bei Martin könnte es sich – in Nehammers Logik – auch um einen Sozialisten handeln, der das Geld anderer verteilt und dafür gefeiert wird, ironischerweise bevorzugt von bürgerlichen Katholiken. Als Bischof von Tours legte sich Martin obendrein mit Staat und Vermögenden an, war also eher ein Linkskatholik. Karl Nehammers Behauptung vom ÖVP-Parteitag, Martins gute Tat sei das Gegenteil von Sozialismus, ist somit irreführend.