Sind die Wirtschaftsforscher wirklich schuld am Budgetloch?

Mindestens 4,4 Milliarden Euro muss die nächste Regierung allein im kommenden Jahr einsparen. Die Verantwortlichkeit für das Budgetdefizit sieht Bundeskanzler Nehammer (ÖVP) in den Prognosen der Wirtschaftsforscher. Warum er es sich damit zu einfach macht.

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Das Budget wurde nach den Prognosen des Wifo erstellt. Das ist im Haushaltsgesetz so festgelegt. Das Wifo hat sich um 1,8 Prozent in seiner Prognose geirrt. Dadurch fehlen in der Budgetplanung tatsächlich Milliarden.

Karl Nehammer (ÖVP)

Die Presse, 30.11.2024

Irreführend

Die mögliche neue Regierung aus ÖVP, SPÖ und Neos startet mit einer denkbar großen Hypothek: laut Fiskalrat besteht allein für das Jahr 2025 ein Konsolidierungsbedarf von mindestens 4,4 Milliarden Euro. Sie muss – auch, um ein Defizitverfahren der Europäischen Union zu verhindern – ein Sparpaket schnüren. Aber wie konnte es dazu kommen? Die ÖVP und Bundeskanzler Karl Nehammer haben die Schuldigen ausgemacht: In Interviews erklärte der Parteichef, dass die Wirtschaftsforscher sich in ihren Prognosen für das Jahr 2024 „geirrt“ hätten. Die Regierung sei bei der Budgeterstellung an diese Prognosen gebunden gewesen, daher erkläre sich das größere Defizit.

Stimmt das? In einem Punkt liegt Nehammer richtig: Das Bundeshaushaltsgesetz sieht tatsächlich vor, dass sich die Regierung bei der Kalkulation auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – also auf den Gesamtwert aller heimischen Waren und Dienstleistungen – stützen muss. Und diesen Wert darf die Bundesregierung nicht selbst berechnen, sie muss per Gesetz auf jenen Wert zurückgreifen, den eine „unabhängige wissenschaftliche Stelle“ berechnet. Bei der Erstellung des Budgets für das Jahr 2024 stützte sich die Bundesregierung schließlich auf die Konjunkturprognose des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) aus dem Oktober 2023.

Wenn die Wirtschaft im Jahr 2024 um 0,6 Prozent schrumpft, anstatt wie im Vorjahr vom Wifo prognostiziert um 1,2 Prozent wächst, „hat das natürlich Auswirkungen gehabt und zwar nicht nur auf die Einnahmen, sondern auch auf die Ausgaben. Dann sind noch weitere Ausgaben dazugekommen, wie etwa nach dem Hochwasser“, sagt Wirtschaftsforscher Helmut Hofer, vom Institut für Höhere Studien (IHS).

Was Hofer meint: Weil sich die Wirtschaft schwächer entwickelte als erwartet, steigt die Arbeitslosigkeit. Damit entgehen dem Finanzminister Lohnsteuern, gleichzeitig steigen die Ausgaben fürs Arbeitslosengeld.

Maastricht-Kriterien

Budgetdefizit: Das jährliche Haushaltsdefizit – Staatsausgaben abzüglich der Staatseinnahmen (wenn Ausgaben die Einnahmen übersteigen) – darf höchstens 3 Prozent des BIP betragen.
Staatsverschuldung: Die Gesamtverschuldung sollte 60 Prozent des BIP nicht überschreiten.

Trotzdem kann Nehammer nicht einfach die Schuld allein auf die Prognosen schieben. Ökonomen halten ihm drei Argumente entgegen.

1. Das Budget war von Anfang an sehr knapp kalkuliert

Ökonom Dénes Kucsera vom wirtschaftsliberalen Think-Tank Agenda Austria bezeichnet das Budget 2024 wörtlich als „fahrlässig“. 

Kucsera verweist darauf, dass die Regierung bei der Budgeterstellung mit einem Defizit von 2,7 Prozent des BIP kalkulierte. Laut den EU-Maastricht-Kriterien, die eine zu hohe Staatsverschuldung verhindern sollen, sind maximal drei Prozent erlaubt. „Die Möglichkeit einer schlechteren Entwicklung wurde offenbar nicht in Betracht gezogen. Die Regierung hat einfach zu wenig Puffer eingepreist“, sagt der Agenda-Experte. Ähnlich hatte sich sein Think Tank vor ein paar Tagen auch schon im „Kurier“ geäußert.

Kucsera argumentiert: Hätte die Regierung die Ausgaben defensiver geplant, „wäre die geänderte Prognose nicht so schlimm“.

Dazu kommt, dass die Regierung mit Einnahmen kalkulierte die unrealistisch waren, wie Fiskalrats-Chef Badelt anmerkt: Er habe bereits früh vermutet, „dass das Finanzministerium den Beitrag der Länder und Gemeinden zum gesamtstaatlichen Saldo falsch einschätzt“.

Bundeskanzler Nehammer beantwortete einen ausführlichen Fragenkatalog von profil nicht, er verwies ans Finanzministerium. Das BMF erklärt schriftlich, dass es grundsätzlich nicht üblich sei, „in der Fiskalprognose, die die Budgetvorlage begleitet, Puffer einzurechnen“. Und: „Es gilt auch zu berücksichtigen, dass zusätzliche Ausgaben, wie zum Beispiel für das Hochwasser nicht absehbar waren. Darüber hinaus bedurfte es angesichts der sich abzeichnenden konjunkturellen Delle auch Impulse durch das Wohnbaupaket, zu dem auch die Wirtschaftsforscher dringend geraten haben.“

Das unvorhersehbare Hochwasser ist allerdings auch ein guter Beleg dafür, dass man Budgets besser mit etwas Spielraum versieht.

2. Die Warnungen des Fiskalrats wurden lange ignoriert

Dass die Konjunkturprognose aus dem Oktober 2023 so nicht halten wird, war bereits wenige Wochen nach dem Budgetbeschluss klar. Wifo und IHS haben bereits im Dezember 2023 das BIP-Wachstum auf 0,9 beziehungsweise 0,8 Prozent nach unten korrigiert. Vier Monate später, im April 2024, schlug der Fiskalrat unter seinem über alle Parteigrenzen hinweg anerkannten Chef, Christoph Badelt, erstmals Alarm. Unter der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation könne an der Defizitprognose des Finanzministeriums nicht mehr festgehalten werden, Österreich werde die Maastricht-Kriterien verletzen.

Der Fiskalrat führte diese Verschlechterung der Budgetsalden gegenüber 2023 „unter anderem auf neu beschlossene Maßnahmen der türkis-grünen Bundesregierung zurück“. Etwa auf die Verlängerung der Strompreisbremse, die neuerliche Aussetzung der Energieabgaben oder das Wohnbaupaket. Dazu kamen die verzögerten und überproportionalen Ausgabensteigerungen durch die hohe Inflation der letzten Jahre. Ebenso spiele die Konjunkturverschlechterung eine Rolle. Das hatte auch das Wifo bereits erkannt und seine Prognosen im März 2024 zum zweiten Mal seit der Budgeterstellung nach unten revidiert. 

Die Regierung nehme Badelts Analysen ernst, sagte Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) damals, versuchte die düstere Aussicht aber trotzdem zu relativieren: „Alle Wirtschaftsforscher außer Badelt sehen uns noch unter den drei Prozent“, sagte der nunmehrige EU-Kommissar Brunner damals.

Man hätte beim Budget nachbessern müssen.

Christoph Badelt, Präsident des Fiskalrats

Kurz darauf erhöhte das BMF die Defizit-Erwartung für das Jahr 2024 auf 2,9 Prozent. Auf profil-Anfrage verweist das BMF genau darauf: „Im März und April 2024 reichten die Prognosespannen von -2,2 Prozent (IHS) bis hin zu -3,4 Prozent (Fiskalrat). Das BMF hat die Einschätzung der 2,9 Prozent Ende März praktisch zeitgleich mit dem WIFO getroffen, das ebenfalls 2,9 Prozent geschätzt hat.“ Und: In volatilen Phasen seien Prognosen schwer zu treffen. Das sei eine Herausforderung, mit der sowohl die Forschungsinstitute als auch das BMF konfrontiert wären. Laut BMF entspreche ein Prozentpunkt weniger beim Wirtschaftswachstum ein um 0,5 Prozentpunkte höheres Defizit.

Das heißt: Das BMF hat im Jahresverlauf zwar das erwartete Budgetdefizit nach oben geschraubt, konnte aber auf profil-Anfrage keine Einsparungsmaßnahmen nennen, die ab dem Frühjahr seitens der Regierung getroffen wurden.

Aus Sicht des Fiskalrat- und Ex-Wifo-Chefs Christoph Badelt wäre aber genau das geboten gewesen, wie er zu profil sagt: „Man hätte beim Budget nachbessern müssen.“ 

Das ist im Vorfeld der Nationalratswahl nicht passiert. Im Gegenteil.

3. Die Regierung gab sogar noch mehr Geld aus

Trotz der verschlechterten Prognose dachte Türkis-Grün nicht ans Sparen. Mitte Mai 2024, ein Monat nach Badelts Weckruf, fiel im Nationalrat der Beschluss, den Klimabonus um rund ein Drittel zu erhöhen. 

Zur Erinnerung: Der Bonus war als Rückvergütung für die CO2-Steuer konzipiert. Wer etwa weniger Benzin verfährt und damit weniger Steuer zahlt, dem bleibt mehr vom Bonus – so die Idee.

Das Problem aus Budgetsicht: Türkis-Grün gab deutlich mehr für den Klimabonus aus, als durch die CO2-Bepreisung hereinkam.

Denn im beschlossenen Budget für 2024 hat die türkis-grüne Koalition mit Einnahmen aus der CO2-Abgabe in der Höhe von 1,28 Milliarden Euro gerechnet. Abzüglich diverser Härtefallregeln sollten dem Staat etwas weniger als eine Milliarde Euro an Einnahmen aus der CO2-Bepreisung bleiben. Gleichzeitig sah das Budget Klimabonus-Auszahlungen in der Höhe von 1,5 Milliarden Euro vor.

Noch einmal eine halbe Milliarde Euro dürfte durch die Erhöhung des Bonus im Mai dazukommen. Die Koalition hat sich nicht an die vorab festgelegten Spielregeln gehalten. Denn laut Klimabonusgesetz wäre eigentlich festgelegt, dass sich die Klimaministerin und der Finanzminister im Laufe des Jahres ansehen, wie sich die CO2-Bepreisung einnahmenseitig entwickelt und auf Basis dessen per Verordnung die Höhe des Klimabonus festlegen. Darauf hat man im Wahljahr aber verzichtet.

Stattdessen haben Türkis-Grün den Klimabonus auf einen Mindestbetrag von 145 Euro – je nach Wohnort ansteigend – erhöht. Was das an Kosten verursacht, hat der freie Journalist Georg Renner beim Finanzministerium erfragt. Dort rechnet man mit Klimabonus-Auszahlungen in der Höhe von 1,96 Milliarden Euro – also beinahe der doppelte Betrag dessen, was der Staat über die CO2-Bepreisung einnehmen dürfte.

Für dieses Milliarden-Geldgeschenk kann die Regierung keinen Wirtschaftsforscher verantwortlich machen.

Einlenken nach der Wahl

Für harsche Kritik sorgte, dass das Finanzministerium seine eigene Defizit-Prognose erst nach der Nationalratswahl korrigierte. Nun geht auch das BMF davon aus, dass Österreich mit 3,3 Prozent Neuverschuldung die Maastricht-Grenze sprengen wird. Noch im Wahlkampf lautete die Sprachregelung der ÖVP zum Defizit, dass man aus den Schulden „herauswachsen“ wolle – ohne Sparpaket und nur durch Wirtschaftswachstum.

Doch selbst an den aktuellen BMF-Zahlen gibt es Zweifel: „Es gibt aber immer noch das Problem, dass das Defizit vom Finanzministerium zu niedrig eingeschätzt wird. Wir schätzen 3,9 Prozent, die EU-Kommission hat sich in ihrer Prognose auf 3,7 Prozent eingependelt“, sagt Fiskalrat-Chef Badelt. Sollte die EU-Kommission dem Rat (der EU-Minister und -Ministerinnen) empfehlen, ein „übermäßiges Defizit festzustellen“, würde auf Österreich ein Defizitverfahren zukommen. Die Druckmittel würden dann von einer Fristsetzung, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen, über Geldstrafen bis zum Zurückhalten von Fördermittel reichen.

Wie groß das Defizit schlussendlich ausgefallen ist, stellt übrigens die Statistik Austria fest. Rückwirkend, selbstverständlich. 

Fazit

Ende 2023, als das Budget im Nationalrat beschlossen wurde, konnte die Regierung tatsächlich von einer besseren wirtschaftlichen Lage ausgehen, als sie in der Folge eintrat. Zum Teil ist das Budgetdefizit also auf eine so nicht vorhersehbare Verschlechterung der Konjunktur zurückzuführen, die sich sowohl einnahmen- als auch ausgabenseitig niederschlägt. Die einseitige Schuldzuweisung von Bundeskanzler Nehammer an die Wirtschaftsforscher ist trotzdem irreführend, denn die Regierung hätte spätestens ab April 2024 gegensteuern können. Das wurde nicht nur unterlassen, sondern belastende Ausgabenposten fürs Budget wurden sogar noch erhöht. Diesen Teil des Defizits kann die Regierung nicht auf die Expertinnen und Experten der Institute schieben, sondern hat sie sich selbst zuzuschreiben.

Julian Kern

Julian Kern

ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.