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Ist Frankreichs Wahlsystem wirklich unfair?

FPÖ-Chef Herbert Kickl behauptet, bei den französischen Parlamentswahlen sei „der Wählerwille auf der Strecke geblieben“. Das ist falsch.

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Ist das alles noch demokratisch? Wo bleibt der Wählerwille? Die Antwort lautet: Auf der Strecke!

Herbert Kickl (FPÖ)

in einem Instagram Posting vom 9.7.2024 zum Ergebnis der französischen Parlamentswahlen

Falsch

FPÖ-Chef Herbert Kickl äußert in einem Beitrag auf der Social-Media-Plattform Instagram scharfe Kritik am Wahlergebnis der französischen Parlamentswahlen. Er stellt die prozentuelle Verteilung der landesweit abgegebenen Stimmen den vergebenen Mandaten gegenüber und gelangt so zur rhetorischen Frage: „Ist das alles noch demokratisch? Wo bleibt der Wählerwille?“ Kickls Antwort: „Auf der Strecke.“

Was ist passiert?

Laut Kickls Zahlen hat der Rassemblement National, die Rechtsaußen-Partei, mit der die FPÖ im EU-Parlament in einer Fraktion sitzt, 37 Prozent der Stimmen errungen und damit deutlich mehr als das Linksbündnis „Neue Volksfront“ mit 26 Prozent und das liberale Bündnis „Ensemble“ mit 23 Prozent. Jedoch gewann der Rassemblement National lediglich 143 Sitze im Parlament, das Linksbündnis hingegen 180 und Ensemble 163.

Kickls Kritik am französischen Wahlergebnis

In einem Posting auf der Social-Media-Plattform behauptet der FPÖ-Chef Herbert Kickl, dass das Resultat der französischen Parlamentswahl dem Wählerwillen widerspricht, weil „das französische Wahlsystem das Ergebnis verbiegt und verzerrt“.

Hat Kickl Recht, wenn er behauptet, das Resultat widerspreche dem Wählerwillen, weil „das französische Wahlsystem das Ergebnis verbiegt und verzerrt“?

Die Sache ist gar nicht so kompliziert: Frankreich praktiziert das Mehrheitswahlrecht, bei dem in jedem Wahlkreis der Kandidat oder die Kandidatin den Parlamentssitz erringt, der entweder im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhält oder im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit. Im zweiten Wahlgang kann antreten, wer im ersten Wahlgang die Stimmen von mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten bekommen hat – es können also auch drei oder mehr Kandidaten in die Stichwahl kommen.

Sehen wir uns das Ergebnis des ersten Wahlgangs an: Da kam der Rassemblement National (RN) auf knapp über 29 Prozent der Stimmen und entschied 37 Wahlkreise mit absoluter Mehrheit für sich. Das Linksbündnis kam auf knapp über 28 Prozent und errang 32 Parlamentssitze. Das liberale Bündnis hingegen bekam mit 20 Prozent der abgegebenen Stimmen bloß zwei Sitze. Herbert Kickl beschwerte sich über dieses – für den RN erfreuliche – Zwischenergebnis nicht, obwohl nach seiner Lesart der Wählerwille offensichtlich „auf der Strecke“ geblieben war. Tatsächlich empfand niemand in Frankreich das Resultat als unfair, denn jeder weiß, dass im ersten Wahlgang eben nur eine absolute Mehrheit in einem Wahlkreis zum Erfolg führt.

Kommen wir zum zweiten Wahlgang, den Kickl beanstandet.

Das Linksbündnis und Teile des liberalen Bündnisses entschieden, ihren jeweiligen Kandidaten in Wahlkreisen zurückzuziehen, wo der jeweils andere Kandidat besser lag. So sollten die Stimmen derer, die nicht den Rassemblement National wählen wollten, alle einem Kandidaten zufallen – ein taktisches Bündnis also, das ebenso legal wie legitim ist. Die Wähler haben dabei die Möglichkeit, sich zwischen dem RN-Kandidaten und einem Gegenkandidaten zu entscheiden.

Das hatte im konkreten Fall zwei Konsequenzen: Erstens ermöglichte es dem Linksbündnis und dem liberalen Bündnis, den jeweiligen RN-Kandidaten in mehr Wahlkreisen zu schlagen. Und zweitens verringerte es insgesamt die Zahl der Kandidaturen des Linksbündnisses und des liberalen Bündnisses.

Zwei Beispiele:

Im 1. Wahlkreis der Region Hautes-Alpes kandidierte im zweiten Wahlgang neben dem Kandidaten des Rassemblement National nur noch die Kandidatin des Linksbündnisses, weil die Kandidatin des liberalen Bündnisses auf ein Antreten im zweiten Wahlgang verzichtete, obwohl sie qualifiziert war. So siegte die Kandidatin des Linksbündnisses mit knapp über 20.242 Stimmen und 51,64 Prozent gegen den RN-Kandidaten mit 18.955 Stimmen und 48,36 Prozent. 

Im 5. Wahlkreis von Indre-et-Loire hingegen zog sich im zweiten Wahlgang die Kandidatin des Linksbündnisses zurück, woraufhin die Kandidatin des liberalen Bündnisses 34.741 Stimmen und 59,27 Prozent auf sich vereinte und den Kandidaten des Rassemblement National (23.869 und 40,73 Prozent) schlug.

Die Addition der Stimmen aus den beiden Wahlkreisen ergibt: Der Rassemblement National bekam insgesamt 42.824 Stimmen, das Linksbündnis 20.242 und das liberale Bündnis 34.741. Der Grund für den Vorsprung des RN liegt auf der Hand: er kandidierte in beiden Wahlkreisen, während die beiden anderen Bündnisse nur in jeweils einem kandidierten. Dennoch gewannen sie jeweils einen Sitz und der RN gar keinen. Auf das ganze Land übertragen potenziert sich dieser Effekt.

So funktioniert das Mehrheitswahlrecht, und welche Partei im Einzelfall davon profitiert, ist situationsabhängig.

Bleibt dabei der Wählerwille auf der Strecke, wie Herbert Kickl moniert? Nein, denn die Franzosen kennen dieses System seit Jahrzehnten und richten ihr Wahlverhalten danach aus. Niemand muss im zweiten Wahlgang einen Kandidaten wählen, den er nicht wählen will. Taktische Bündnisse – wie in diesem Fall gegen den RN – funktionieren nur, wenn die Wähler dem Aufruf, ihre Stimme dem einzigen Gegenkandidaten zu geben, auch wenn er nicht ihrer bevorzugten Partei angehört, Folge leisten.

Übrigens haben auch Herbert Kickl und die FPÖ kein prinzipielles Problem mit den Konsequenzen des Mehrheitswahlrechts. Als etwa 2016 in den USA Donald Trump dank des Mehrheitswahlrechts US-Präsident wurde, obwohl er landesweit fast drei Millionen Stimmen weniger als seine Gegnerin Hillary Clinton bekommen hatte, gratulierte die FPÖ freudig und gänzlich ohne einen kritischen Einwand.

Fazit

Blieb also bei den französischen Parlamentswahlen der Wählerwille auf der Strecke, wie Herbert Kickl behauptet? Nein. Die Stimmenzahlen aller Wahlkreise zu addieren, ist beim Mehrheitswahlrecht irreführend. Die Parlamentswahlen waren demokratisch einwandfrei. Kickls Vorwurf ist falsch.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur