Kickl-Irreführungen zu Vollimmunisierung: „Brandgefährlich“
Wie verantwortungslos kann man als Politiker überhaupt noch sein, im Zusammenhang von zwei Impfungen von einer Vollimmunisierung zu sprechen? Wenn man weiß, dass ich mich weiter infizieren, weiter erkranken und das Virus weiterhin weitergeben kann.“
Irreführend
Am Donnerstag wurde mit 11.975 Corona-Neuinfektionen der Höchststand seit Pandemiebeginn erreicht. In der vergangenen Woche gab es beinahe täglich neue Infektionsrekorde – und das obwohl man sich gratis impfen lassen kann. Im Kampf gegen die vierte Welle beschlossen Bundes- und Landesregierungen 2G-Regelungen, verstärkte Auffrischungs-Impfungen und eine flächendeckende FFP2-Maskenpflicht. Wien reagiert mit dem dritten Stich für alle, die schon sechs Monate geimpft sind, und Off-Label-Impfungen für Kinder. Maßnahmen, die gar nicht nötig wären, glaubt man Herbert Kickl, der zuletzt mehrfach betonte, dass eine Vollimmunisierung durch Covid-Impfungen nicht erreicht werden könne.
Ist Kickl der bessere Mediziner?
„Herr Doktor Kickl ordiniert gerne, ist aber kein Arzt“, sagt Infektiologe Herwig Kollaritsch, Mitglied des österreichischen nationalen Impfgremiums, gegenüber faktiv. „Er geht davon aus, dass eine Impfung eine sterilisierende Immunität herstellt. Wir haben von Anfang an gewusst, dass die Impfung keine 100-prozentige Wirksamkeit hat, Ausreißer gibt es immer. Die meisten Impfungen bieten nur einen relativen Schutz.“ In der Fachwelt spreche man eher von einer Grundimmunisierung und Auffrischungsimpfungen, wobei man sich noch nicht ganz sicher sei, ob die dritte Impfung im Fall von Covid-19 noch zur Grundimmunisierung gehört oder schon einer Auffrischungsimpfung gleichkommt. „Vollimmunisierung“ sei eigentlich kein medizinischer Fachterminus, meint Kollaritsch. „Der Begriff suggeriert etwas, das de facto nicht möglich ist. Es ist falsch, wenn man als medizinischer Laie davon ableitet, dass man zu 100% geschützt ist.“ Wenn man von Vollimmunisierung spreche, sei eigentlich gemeint, dass alle empfohlenen Dosen eines Impfstoffes erhalten wurden. „Wie gut die Immunreaktion darauf ist, hängt aber von verschiedenen Faktoren ab und variiert im Einzelfall.“
Im Prinzip sind die Impfstoffe aber wirksam, meint der Mediziner. „Die Durchbrüche gibt es, weil das Virus sich erlaubt hat, zu mutieren. Wenn noch die Alpha-Variante dominant wäre, müsste man noch nicht über einen Drittstich nachdenken.“ Kollaritsch sieht bei Impfdurchbrüchen zwei große Risiko-Gruppen: 19- bis 49-Jährige, die mit dem generell weniger wirksamen Impfstoff von Johnson & Johnson geimpft wurden, sowie Impflinge der ersten Stunde, bei denen die Wirkung mittlerweile schon wieder nachlässt. „Trotzdem gibt es kaum doppelt geimpfte Todesfälle. Wenn das passiert, sind es meistens Hochrisikopatienten, die Immunsuppressiva nehmen oder schwere Erkrankungen haben, bei denen der Impfstoff von vornherein schlechter funktioniert hat.“
Der Epidemiologe Gerald Gartlehner ist nicht ganz so streng mit Kickl, hat aber ebenfalls Einwände: „Ganz falsch ist das nicht, es gibt tatsächlich gerade eine große Debatte darüber, ob zwei Impfungen eine Vollimmunisierung sind. Aber auch wenn die Aussage nicht ganz falsch ist – die Forderung nach 100-prozentiger Wirksamkeit ist eine Illusion.“ Auch Gartlehner erklärt, dass die Notwendigkeit von Auffrischungsimpfungen an sich nichts Ungewöhnliches wäre. Ob nach der dritten nicht vielleicht auch noch eine vierte Impfung notwendig sein wird, würde er noch nicht ausschließen. „Das ist bei allen Impfungen, die keine Lebendimpfungen wie Mumps, Masern oder Röteln sind, eigentlich normal. Uns fehlen aber einfach noch die Daten, um zu wissen, wie groß diese Auffrischungs-Intervalle sein könnten.“
Wie sieht es das Gesundheitsministerium?
Die aktuelle Definition laut Gesundheitsministerium: Nach zwei Dosen ist eine „Impfserie“ abgeschlossen. Eine weitere Dosis wird sechs Monate nach dem Zweitstich empfohlen, dann gilt die „Grundimmunisierung“ als erledigt. Kommt es nach der ersten vollständigen Impfserie mit zwei Impfungen zu einem Impfdurchbruch, wird aktuell keine dritte Impfung empfohlen. „Die Nomenklatur wurde in den letzten Wochen aufgrund der sich verändernden Rahmenbedingungen kontinuierlich angepasst“, heißt es dazu aus dem Ministerium. Die Definition der AGES (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit) lautet jedoch nach wie vor: Vollständige Impfung = abgeschlossene Impfserie (zwei Dosen bei Moderna, BioNTech, AstraZeneca bzw. eine Dosis bei Janssen/Johnson&Johnson). So spiegelt es sich auch in den offiziellen Corona-Zahlen der AGES wider.
Ein Blick auf die 7-Tages-Inzidenzen gibt Aufschluss darüber, wie groß der Unterschied im Infektionsschutz zwischen vollständig Geimpften und nicht vollständig Geimpften ist. In der Altersgruppe der 18- bis 59-Jährigen kommt man bei den vollständig Geimpften auf eine Inzidenz von 383,2 (pro 100.000 Menschen), während sie bei den nicht vollständig Geimpften 1734,2 beträgt (Stand 11.11.2021). Wenn man sich nur die tatsächlich symptomatischen Fälle anschaut, kommt man bei den vollständig Geimpften in der gleichen Altersgruppe auf eine 7-Tages-Inzidenz von 275,8. Bei den nicht vollständig Geimpften ist sie mit 761,8 fast dreimal so hoch. (Stand 7.11.2021)
Wie rechtfertigt sich Kickl?
Seriöse Wissenschafter haben im Zusammenhang mit der Corona-Impfung nie von einem 100-prozentigem Schutz gesprochen. Auch auf der Website des Gesundheitsministeriums heißt es bloß, dass durch die Impfung „das Risiko, schwer an COVID-19 zu erkranken oder zu versterben, deutlich reduziert wird“. Auf faktiv-Anfrage konnte ein Sprecher des FPÖ-Chefs auch keinen Experten nennen, der anderes behauptet hätte. Führt Kickl die Bevölkerung also in die Irre? Wen hat der FPÖ-Chef gemeint, als er sagte, es sei „verantwortungslos“, den Begriff „Vollimmunisierung“ zu verwenden? Ein Sprecher von Kickl verweist auf ein Statement von Ex-Kanzler Sebastian Kurz, der im Juli bekanntlich erklärte, die Pandemie sei „für jeden vorbei, der geimpft ist.“ Tatsächlich ist dieses Kurz-Zitat fragwürdig und wurde von Virologinnen und Epidemiologen auch scharf kritisiert. Kurz verwendete allerdings das von Kickl kritisierte Wort der „Vollimmunisierung“ gar nicht, also geht der Rechtfertigungsversuch des Blauen ins Leere.
Fazit
Fest steht: Aus dem Begriff „Vollimmunisierung“ sollte kein absoluter Impfschutz abgeleitet werden, gemeinhin wird darunter verstanden, dass ein Impfling alle notwendigen Dosen für eine Grundimmunisierung erhalten habe. Während vor einigen Monaten noch die gängige Lehrmeinung war, dass eine Vollimmunisierung nach zwei Impfdosen der Hersteller AstraZeneca oder Pfizer erreicht ist, hat sich die Definition dahingehend verschoben, dass nun eine dritte Impfung notwendig ist. Der Begriff „Vollimmunisierung“ wird allerdings auch in der Fachwelt diskutiert und ist nicht unproblematisch, weil er medizinischen Laien etwas suggeriert, das in der Realität nicht erreichbar ist: Ein hundertprozentiger Schutz. Der FPÖ-Chef konnte jedenfalls keine Belege dafür vorweisen, dass Wissenschafter oder Politiker in Österreich aus dem Begriff „Vollimmunisierung“ einen absoluten Impfschutz abgeleitet hätten. Kickls Aussage ist daher als irreführend zu bewerten, denn er argumentiert gegen etwas, das so nie behauptet wurde. Der Infektiologe Herwig Kollaritsch findet Kickls Aussagen deshalb „brandgefährlich“ und meint: „Man müsste Menschen wie ihn in die Verantwortung nehmen, weil er bewusst Falschinformationen verbreitet, durch die Menschen gefährdet werden.“ Anhand der Inzidenzen kann man im Übrigen einen deutlichen Unterschied zwischen (laut AGES-Definition) vollständig Geimpften und nicht vollständig Geimpften erkennen, was für die Wirksamkeit der Impfung spricht.