Nehammer: Falsch bei Familienleistungen, irreführend bei der FPÖ

Kanzler Karl Nehammer irrte im ORF-Sommergespräch. Österreich ist nicht das Land mit den höchsten Familienleistungen der EU und seine ÖVP kein Bollwerk gegen die Kickl-FPÖ. Richtig lag der Kanzler bei der Kaufkraft-Steigerung. Ein Faktencheck.

Drucken

Schriftgröße

Österreich ist das Land mit den größten Familienleistungen innerhalb der Europäischen Union.

Karl Nehammer

ORF-Sommergespräch 2023

Falsch

Es wird das Geheimnis von Bundeskanzler Karl Nehammer bleiben, wie er zur Auffassung gelangte, dass Österreich in der EU am meisten Geld für Familienleistungen ausschüttet. Denn er liegt damit denkbar weit daneben.

Regierungen haben drei Möglichkeiten, um Familien zu unterstützen. Mit Steuergutschriften für die Eltern wie dem Familienbonus, mit Geldtransfers wie der Familienbeihilfe oder mit Investitionen in öffentliche Kinderbetreuungsangebote.  

Machen wir es kurz: Österreich ist in keinem der drei Bereiche europaweit führend. Die letzten belastbaren Vergleichszahlen weist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für das Jahr 2019 aus. Zählt man alle drei Bereiche zusammen, gibt Österreich 2,54 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Familienleistungen aus und liegt damit knapp unter dem EU-Durchschnitt.

Skandinavische Länder wie Dänemark, Finnland oder Schweden investieren traditionell mehr Geld in Betreuungseinrichtungen, überweisen den Eltern aber weniger Geld direkt. In Ländern wie Österreich, Deutschland oder – ganz besonders stark ausgeprägt – Polen, fließt mehr Geld in Direkttransfers und Steuerbegünstigungen. Bei den Direkttransfers liegt Österreich hinter Estland und Polen auf Platz drei, bei den öffentlichen Betreuungseinrichtungen (die OECD nennt sie "services") dagegen im hinteren Drittel. Bekanntlich ist in Österreich das Angebot für unter Dreijährige besonders schlecht ausgebaut.

"Bei den Familienleistungen war Österreich immer im obersten Drittel und ist dann in den letzten Jahren Richtung Durchschnitt abgesunken. Das liegt nicht daran, dass die Ausgaben zurückgegangen sind, sondern sie sind nicht mit der Wirtschaftsleistung mitgestiegen. Das wurde oft kritisiert", erklärt Sonja Dörfler-Bolt vom Institut für Familienforschung.

Aus Sicht von Dörfler-Bolt dürfte die OECD allerdings den Familienbonus Plus, der unter Türkis-Blau eingeführt wurde, in ihrer aktuellen Statistik für 2019 noch nicht berücksichtigt haben. Doch selbst wenn man dieses Steuerzuckerl für Eltern einpreist, liegt Österreich bloß im besseren Mittelfeld.

Nehammers Behauptung ist also eindeutig falsch, egal, wie man es dreht und wendet. Das Kanzleramt konnte auf profil-Anfrage keine Belege dafür anführen, hielt aber fest, dass Leistungen wie die automatische Valorisierung der Familienleistungen in der 2019er-Statistik „noch nicht berücksichtigt“ wären.

Wenn die Regierung aus ÖVP und Grünen allerdings ihre jüngste Ankündigung wahrmacht und bis 2030 tatsächlich 4,5 Milliarden Euro in den Ausbau der Kinderbetreuung steckt, dann könnte Österreich in der Statistik der Familienleistungen tatsächlich vorrücken.

Wir haben die Kaufkraft in Österreich inflationsbereinigt sogar gesteigert.

Karl Nehammer

ORF-Sommergespräch 2023

Fakt

Nehammer war im Sommergespräch bemüht, eine positive Grundstimmung zu vermitteln – und die gute Arbeit der Bundesregierung hervorzuheben. Er betonte deswegen auch, dass die Anti-Teuerungsmaßnahmen gefruchtet hätten. Dazu gehörten verschiedene Einmalzahlungen wie Wohn- und Heizkostenzuschüsse, die Erhöhung des Familienbonus und die Einführung der valorisierten Sozialleistungen – also deren automatische Anpassung an die Teuerungsrate. Rund 48 Milliarden Euro hat sie dafür ausgegeben, errechnete das Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO im Mai. Das befeuerte zwar die Inflation, zeigte aber auch Wirkung.

Denn Nehammer sagt im Wesentlichen die Wahrheit. Die Kaufkraft ist in Österreich in den letzten beiden Jahren nicht zurückgegangen. Das prognostiziert zumindest das WIFO, das dafür auf die Entwicklung der real verfügbaren Einkommen von privaten Haushalten, verweist. Diese umfassen – inflationsbereinigt – alle Nettoeinkommen der Österreicherinnen und Österreicher zuzüglich etwaiger Sozialleistungen. Sie belaufen sich aktuell auf rund 250 Milliarden Euro jährlich.

Zwar erlitten sie im Corona-Jahr 2020 einen 2,9-prozentigen Rückgang, seither sind sie allerdings gestiegen. 2021 um 1,9 Prozent, im Vorjahr um 0,8 Prozent. Für das aktuelle Jahr liegt seitens des WIFO aktuell nur eine Prognose vor: Ihr zufolge steigen die real verfügbaren Haushalteinkommen 2023 um 0,1 Prozent. "Ohne die Maßnahmen der Regierung hätten wir sicher einen Rückgang erlebt", sagt Stefan Schiman-Vukan vom WIFO. Alleinverantwortlich ist die Bundesregierung dafür freilich nicht. Auch die hohen Lohnabschlüsse, auf die sich die Sozialpartner geeinigt haben, wirken sich positiv auf die Haushaltseinkommen aus. Unklar ist zudem, ob die Prognose hält. "Die Abwärtsrisiken haben weiter zugenommen", hält das WIFO in der Konjunkturprognose fest.

Auch wenn es angesichts der Rekordteuerung überraschend klingen mag: Die Prognosen gehen tatsächlich von einem leichten Anstieg der Kaufkraft für 2023 aus. Nehammer liegt in diesem Punkt richtig.

Seitdem [seit dem Ibiza-Video, Anm.] ist die Volkspartei die einzige glaubhafte Partei, die nie mit Herbert Kickl zusammengearbeitet hat. Schauen Sie sich an, es gab dann Koalitionen im Parlament mit den Freiheitlichen, mit dem Herbert Kickl. Aber von allen hier im Parlament vertretenen Parteien.

Karl Nehammer

ORF-Sommergespräch 2023

Irreführend

Für die ÖVP ist Herbert Kickl zum Paria geworden. Nehammer versuchte den FPÖ-Chef im Sommergespräch zum wiederholten Mal als Sicherheitsrisiko darzustellen, ein Wording, das die Volkspartei seit Juli verwendet. Solange Kickl einen entscheidenden Einfluss auf die Freiheitlichen habe, werde die ÖVP nicht mit ihnen koalieren, sagte Nehammer.

Nehammer behauptet, dass die ÖVP seit dem Auftauchen des Ibiza-Videos im Mai 2019 die einzige Partei ist, die nicht mit Herbert Kickl zusammengearbeitet hat. Zur Erinnerung: Damals stellte die ÖVP unter Sebastian Kurz die Forderung auf, dass Kickl als Innenminister zurücktreten müsse, andernfalls werde die Koalition aufgelöst. Die FPÖ hielt an Kickl fest, die Folge waren Neuwahlen.

Gab es seither wirklich keine Zweckgemeinschaften mehr zwischen Schwarz und Blau?

Nehammer macht es sich leicht: "Im Parlament schließen Regierungsparteien extra einen Pakt, dass sie zur Zeit ihrer Koalition bei allen Gesetzesbeschlüssen und Anträgen jahrelang immer oder fast immer miteinander gleich abstimmen. Einen solchen Pakt haben Oppositionsparteien nicht. Dass sie mal gemeinsam und mal unterschiedlich abstimmen, das liegt in der Natur der Sache, weil man ja bei zum Beispiel 174 im Vorjahr im Parlament beschlossenen Gesetzen auch einmal gleicher Meinung sein kann. Das auf eine Ebene mit einer Koalitionsregierung zu stellen, ist wohl bewusst irreführend", sagt Politikwissenschafter Peter Filzmaier zu profil. Eine vertiefte Zusammenarbeit oder gar gemeinsame Beschlüsse zwischen ÖVP und FPÖ im Parlament wären aufgrund des aufrechten Koalitionsvertrags mit den Grünen gar nicht möglich – sie kämen einem Koalitionsbruch gleich.

Die Oppositionsparteien SPÖ und Neos stimmen in Einzelfällen im Nationalrat Anträgen der Freiheitlichen zu. Als die Korruptionsvorwürfe gegen Alt-Kanzler Sebastian Kurz im Oktober 2021 einen vorläufigen Höhepunkt fanden, erwogen die Grünen einen Misstrauensantrag gegen ihn zu unterstützen. Kurz kam ihm zuvor und trat zurück.

Allparteienanträge – bei denen alle Parlamentsfraktionen zustimmen – lässt das Büro des Kanzlers nicht als Ausnahme der Anti-Kickl-Linie gelten: "Allparteienanträge nur deswegen nicht zu beschließen, weil alle Parteien zustimmen, und damit auch die FPÖ, wäre absurd", heißt es auf Nachfrage von Nehammers Sprecher.

Was Nehammers Behauptung zusätzlich irreführend macht, sind die Koalitionen in den Ländern. Vor allem in Niederösterreich, das seit März von einer schwarz-blauen Regierung geführt wird, ist die Nähe zwischen Volkspartei und Kickl-Vertrauten unübersehbar. Das gilt nicht nur für FPÖ-Landeshauptfrau-Stellvertreter Udo Landbauer – blauer Klubobmann ist im St. Pöltner Landtag Reinhard Teufel, er war im Innenministerium Kickls Kabinettchef. Dazu kommt: In Wiener Neustadt, der zweitgrößten Stadt des Bundeslandes, regiert die ÖVP mithilfe eines Arbeitsübereinkommens mit der FPÖ. Die freiheitliche Fraktion wird von Michael Schnedlitz angeführt, den Kickl im Jänner zum Generalsekretär der Bundespartei machte. Sein Koalitionspartner ist ausgerechnet ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker, der Vizebürgermeister von Wiener Neustadt ist. Filzmaier: "Wo ist der Unterschied im Parteiprogramm der FPÖ in Niederösterreich und auf Bundesebene, und wo der Unterschied in den Aussagen zwischen den Personen Kickl und Landbauer? Mir ist keine einzige Äußerung bewusst, wo sich die beiden 2023 öffentlich widersprochen hätten."

Nehammers Büro erklärt auf Nachfrage: "Weder Michael Schnedlitz noch Reinhard Teufel sind Herbert Kickl."

Fazit: Seit dem Ende von Türkis-Blau auf Bundesebene ging die ÖVP auf Landesebene zwei neue Koalitionen mit der FPÖ ein, eine davon mit einer Landespartei, die den Kurs von Herbert Kickl voll mitträgt und in der es vor Kickl-Vertrauten nur so wimmelt. Dazu kommt: Im Parlament kann die ÖVP aufgrund des Koalitionsvertrags derzeit gar nicht mit der FPÖ mitstimmen. Umgekehrt haben aber weder SPÖ, Grüne oder Neos irgendwelche fixen Vereinbarungen mit Kickl und seiner FPÖ im Parlament oder auf Landesebene, die auch nur annähernd mit einer Koalition gleichzusetzen sind. Nehammers Behauptung ist daher irreführend.

Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.