Nehammers falsches Versprechen: Stelle gegen Polizeigewalt verzögert sich
Erste konkrete Varianten, wie diese Organisation ausgestaltet wird, werden im Herbst vorliegen, kündigte ein Sprecher von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) an. Mit der Umsetzung sei in der ersten Jahreshälfte 2021 zu rechnen.“
Falsch
Ein Polizist schlägt mehrmals auf einen am Boden liegenden Demonstranten ein. Der Kopf eines Aktivisten wird so fixiert, dass er beinahe von einem Polizeibus überrollt wird. Diese Szenen einer Klimademonstration in Wien im Mai 2019 haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Mehrere Fälle zogen Gerichtsverhandlungen nach sich und haben zu Verurteilungen geführt – etwas, das sonst eher selten zu passieren scheint: Zumeist werden strafrechtliche Ermittlungen gegen Polizistinnen eingestellt, die Beamten bleiben häufig weiter im Dienst. Nicht umsonst fordern NGOs seit Jahren die Errichtung einer unabhängigen Ermittlungs- und Beschwerdestelle bei mutmaßlicher Polizeigewalt – zur konsequenten Aufklärung von Misshandlungsvorwürfen und zur Stärkung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Polizei. Die türkis-grüne Bundesregierung hat die Errichtung einer solchen Organisation schließlich im Regierungsprogramm verankert und eine Umsetzung im Jahr 2021 versprochen. Bis heute gibt es eine solche Stelle jedoch nicht.
Interne Mails aus dem Innenministerium und neue Details aus Verhandlerkreisen zeigen: Das Projekt ist heikel, heiß umkämpft und wird wohl noch einige Monate auf sich warten lassen.
Unter der Überschrift „Gute Rahmenbedingungen für eine moderne Polizei“ wird im Regierungsprogramm 2020-2024 von ÖVP und Grünen proklamiert: „Konsequente und unabhängige Ermittlung bei Misshandlungsvorwürfen gegen Polizeibeamtinnen bzw. Polizeibeamte in einer eigenen Behörde in multiprofessioneller Zusammensetzung, die sowohl von Amts wegen ermittelt als auch als Beschwerdestelle für Betroffene fungiert und mit polizeilichen Befugnissen ausgestattet ist“. Schon im März 2020 hieß es diesbezüglich aus dem damals vom amtierenden Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) geführten Innenministerium: „Zur Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle wurde projektmäßig ein umsetzungsfähiges Konzept bis Herbst 2020 beauftragt.“ Im Juli 2020 folgte gegenüber der Austria Presse Agentur (APA) eine noch genauere zeitliche Ankündigung: „Erste konkrete Varianten, wie diese Organisation ausgestaltet wird, werden im Herbst vorliegen, kündigte ein Sprecher von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) an. Mit der Umsetzung sei in der ersten Jahreshälfte 2021 zu rechnen.“ Was bis jetzt passiert ist? Nicht viel, das sei vorweggenommen.
NGOs: „Ermittlungs- und Beschwerdestelle muss Priorität haben“
„Das ganze Ausmaß von Polizeigewalt ist nicht bekannt, da sich unserer Erfahrung nach viele der Betroffenen aus Angst vor Repressalien oder fehlenden Vertrauen in die Aufklärung erst gar nicht an die Polizei oder die Staatsanwaltschaft wenden“, heißt es in einem offenen Brief, initiiert von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. 40 Zivilgesellschaftliche Organisationen und Expertinnen und Experten haben das Dokument 2020 unterzeichnet. Ihre Forderung: Nicht Polizeibeamte aus der eigenen Organisationseinheit, sondern eine unabhängige Ermittlungs- und Beschwerdestelle mit umfassenden Kompetenzen soll Misshandlungsvorwürfe gegen Polizistinnen und Polizisten aufklären. Unterzeichnet hat das Papier auch Menschenrechtsberater Walter Suntinger. Warum es ohne eine neue Organisation nicht geht, erklärt der Fachmann so: „Österreich hat Standards des internationalen Rechts, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht umgesetzt. Dafür braucht es so eine Stelle, die Objektivität und Qualität der Untersuchung erhöht.“ Dies sei eine „Win-Win-Situation für alle Beteiligten“.
Die ideale Ausgestaltung
Für Menschenrechtsexperte Philipp Sonderegger, der sich im Sommer 2020 gemeinsam mit anderen namhaften Fachleuten mit konkreten Vorschlägen zur Ausgestaltung einer Untersuchungsstelle an die Regierung richtete, ist die Multidisziplinarität einer solchen Organisation wesentlich. Das soll heißen: Nicht nur Beamte sollten künftig bei Missbrauchsvorwürfen gegen ihre eigenen Berufskollegen ermitteln. Sonderegger: „Es wäre besser, wenn auch andere Professionen neben Polizistinnen und Polizisten operativ tätig sind. Das mildert den Korpsgeist in der Polizei.“ Auch Ärztinnen oder Psychologen sollten zum Beispiel bei Ermittlungsschritten wie der Vernehmung eines Beamten oder einer Beamtin dabei sein, wenn es um mutmaßliche Polizeigewalt geht. Außerdem brauche es zur Überprüfung der Handlungen ein Aufsichtsgremium, das jedenfalls multidisziplinär zu besetzen sei. Dieses sollte Zugang zu allen Räumlichkeiten und Dokumenten bekommen und Empfehlungen abgeben dürfen. Dabei sei „eine starke Anbindung an eine qualifizierte Öffentlichkeit“ wichtig, so Sonderegger: Mitglieder dieses Gremiums müssten sich etwa einem öffentlichen Auswahlverfahren stellen und NGOs Fragen beantworten. So viel zur Theorie. Doch wo liegt der Entwurf derzeit?
Der aktuelle Stand der Dinge
Im Juli 2020 antwortete der damalige Innenminister Nehammer auf eine parlamentarische Anfrage der FPÖ, die sich im Übrigen gegen eine unabhängige Untersuchungsstelle in Fällen mutmaßlicher Polizeigewalt ausspricht, dass eine Arbeitsgruppe zur Errichtung der Organisation beauftragt wurde – unter der Leitung des Wiener Vize-Polizeipräsidenten Franz Eigner. Gegenüber profil erläutert Eigner, dass die Willensbildung dort noch nicht abgeschlossen sei. Problematisch sei insbesondere, dass es ein „Misstrauen der Polizei“ gegenüber einer solchen Stelle gebe. Zur Zusammensetzung der Stelle betont der AG-Vorsitzende, dass jedenfalls andere Professionen „in irgendeiner Weise“ bei der Untersuchung von Missbrauchsvorwürfen gegen Polizeibeamte mitarbeiten müssten. Vom amtierenden Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) wird auf Nachfrage zunächst auf die Pandemie hingewiesen und betont, dass die Arbeiten dennoch „mit Nachdruck“ weitergeführt werden. Hinsichtlich eines konkreten Zeitplans hält sich der Minister vage. Konzepte von Fachleuten würden zunächst in der Arbeitsgruppe und anschließend von den Regierungsparteien diskutiert werden.
Eine der vom Innenministerium genannten Expertinnen ist Gerichtsmedizinerin Andrea Berzlanovich von der MedUni Wien. Sie schildert gegenüber profil: „Unsere Empfehlungen sind Ende Sommer 2020 ans Bundesministerium weitergeleitet worden.“ Seitdem sei die Fachfrau nicht mehr in die Tätigkeiten eingebunden. Verfassungsjurist Reinhard Klaushofer, der ebenfalls als Experte genannt wird, bestätigt: „Wir haben im Sommer 2020 ein rechtlich durchdachtes Konzept erarbeitet und fertiggestellt. Derzeit ist der Entwurf zwischen den Koalitionsparteien in Diskussion.“
Woran und warum es hakt
Für die Grünen am Verhandlungstisch sitzt deren Sicherheitssprecher im Parlament Georg Bürstmayr. Seine Begründung für die Verzögerung des Projekts: „Es spießt sich ein bisschen an der Frage, ob und wie weit Nicht-Polizisten die Handlungen von Polizisten untersuchen sollen oder nicht.“ Im Regierungsprogramm sei eine unabhängige Ermittlung bei Misshandlungsvorwürfen durch eine Behörde „in multiprofessioneller Zusammensetzung“ vereinbart worden: „Welche Berufsgruppen das sein können (zum Beispiel Medizinerinnen oder Psychologen) und wo genau die eingesetzt werden, muss noch finalisiert werden.“ Auch der Juniorpartner der ÖVP kann keinen konkreten Zeitplan vorlegen. Bürstmayr: „Es gibt ein Bonmot, das lautet: Du musst ein Vorhaben immer drei Mal verhandeln – für das Regierungsprogramm, die konkrete Ausgestaltung und das Budget. Wir befinden uns in der zweiten Phase.“ Nicht geholfen habe außerdem, dass es einen Wechsel bei Innenminister und Sicherheitssprecher der ÖVP gegeben habe. Zur Erinnerung: Im Dezember folgte Gerhard Karner auf Karl Nehammer als Innenminister, der die Funktion des Bundeskanzlers übernahm. Ebenfalls im Dezember, nach dem politischen Aus von Gernot Blümel, wechselte der damalige ÖVP-Sicherheitssprecher Karl Mahrer in die Wiener Stadtpolitik.
Ansiedelung im BAK
Ein weiterer Knackpunkt bei den Verhandlungen: Unterschiedliche Vorstellungen über die Unabhängigkeit einer solchen Stelle, wie aus dem Innenministerium zu hören war. Laut Verfassungsjurist Klaushofer seien unabhängige, weisungsfreie Untersuchungen sowohl für strafrechtliche Ermittlungen als auch besonders für Disziplinarverfahren „zentral“. Von Seiten der Polizei wird in dem Zusammenhang hervorgehoben, dass für Beamte „alle Rechte, die auch Privatpersonen genießen, insbesondere die Unschuldsvermutung“ zu gelten haben, wie der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Reinhard Zimmermann gegenüber profil erläutert. Sein Stellvertreter Hermann Greylinger führt ins Treffen: „Erst wenn es zu einer Verurteilung kommt, können disziplinarrechtliche Maßnahmen und Hemmnisse beim beruflichen Fortkommen wie etwa die Nichtteilnahme an Fortbildungen zum Tragen kommen.“ Eine Einbindung der Personalvertretungen in die Umsetzung des Vorhabens sei bisher nicht erfolgt, heißt es.
Wie heikel die Materie für das Innenministerium ist, zeigt auch ein internes E-Mail aus der Personalabteilung von Anfang 2021, das profil vorliegt: Das Ressort muss nicht nur mit den traditionell Polizei-kritischen Grünen verhandeln – sondern die Untersuchungsstelle für Polizeigewalt auch vor den skeptischen Beamten im eigenen Haus rechtfertigen. In der Mail wird die geplante Organisation als „Schutzeinrichtung für Polizistinnen und Polizisten vor ungerechtfertigten Anschuldigungen“ bezeichnet. Weitgehend außer Frage stehen dürfte jedenfalls bereits, wie ebenfalls aus dem Schriftverkehr hervorgeht, dass die neue Untersuchungsstelle bei Polizeigewalt im Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK) - eine Einrichtung des Innenministeriums - angesiedelt wird. Und: Schon damals, im Februar 2021, war von einer „Abschluss- und Abstimmungsphase“ des ersten Konzepts die Rede.
Neuer Zeitplan
Von einem baldigen Abschluss des Vorhabens war Ende 2021 schließlich nichts mehr zu hören. Es gebe „keine zeitlichen Vorgaben für die Reform", antwortete Karl Nehammer, damals noch Innenminister, auf eine parlamentarische Anfrage von Neos-Nationalrätin Stephanie Krisper.
In der Anfragebeantwortung des nunmehrigen Bundeskanzlers vom November findet sich auch folgender Satz zur Umsetzung der Untersuchungsstelle: „Ich pflege überdies einen intensiven Austausch mit der Volksanwaltschaft, die aber nicht direkt in die Projektarbeit eingebunden ist.“ Seit Jahren fordert diese als parlamentarischer Ombudsrat zur Kontrolle der öffentlichen Verwaltung eine Reform der Untersuchung von Missbrauchsvorwürfen gegen Polizeibeamte. Hinsichtlich der Aussage zu deren Einbindung zeigt sich der für die Thematik zuständige Volksanwalt Walter Rosenkranz empört: „Ein intensiver Austausch was diesen Reformpunkt betrifft ist spurlos an uns vorübergegangen. Wir haben gar keine inhaltlichen Informationen bekommen.“ Die Beistellung der langjährigen Expertise der Volksanwaltschaft sei der Regierung jedoch mehrfach angetragen worden.
Wie es weitergehen soll
In Grünen-Kreisen wird auf eine Finalisierung der Organisation zur Untersuchung von Polizeigewalt im Frühjahr 2022 gehofft. Wenig Grund für Optimismus gibt allerdings die Aufschiebung eines entsprechenden Entschließungsantrags der Neos-Abgeordneten Krisper. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, dem Nationalrat sobald wie möglich einen Gesetzesvorschlag zur Unabhängigkeit der Ermittlungen bei mutmaßlicher Polizeigewalt zu übermitteln. In der Sitzung des Innenausschuss im Parlament vom 10. Dezember 2021 wurde der Antrag vertagt. Der nächste Termin für den Ausschuss sei jedoch noch nicht anvisiert, wie SPÖ-Sicherheitssprecher Reinhold Einwallner gegenüber profil erklärt. Auch die SPÖ spricht sich im Übrigen für die Errichtung einer unabhängigen Untersuchungsstelle aus. Für die Verzögerung hat Einwallner folgende, einfache Erklärung: „Die beiden Welten von türkis und grün passen hier einfach nicht zusammen.“
Fazit
Bei allen Unklarheiten steht jedenfalls fest: Eine unabhängige Ermittlungs- und Beschwerdestelle bei Polizeigewalt gibt es bis heute nicht. Die Aussage des ehemaligen Innenministers und amtierenden Bundeskanzlers Nehammer ist daher insgesamt als falsch einzustufen. Warum es einen „dringenden Bedarf“ für so eine Stelle gibt, fasst Walter Hammerschick vom Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie schließlich so zusammen: „Es ist für alle Beteiligten besser, so einen heiklen Bereich von außen zu betrachten – auch für die Exekutive. Diese Untersuchungen werden die Exekutive oft auch klarer entlasten, als das bisher der Fall ist.“