ÖVP verbreitet unbelegte Zahlen zur Christenverfolgung
Von Lara Schimpf
80% der aufgrund ihres Glaubens verfolgten Menschen sind Christen.“
Unbelegt
Das ist die Geschichte einer Zahl, die weltweit zitiert und scheinbar nie hinterfragt wurde. 80 Prozent – so hoch soll der Anteil von Christinnen und Christen unter allen Menschen sein, die aufgrund ihrer Religion verfolgt werden. Britische Bischöfe, konservative deutsche Bundestagsabgeordnete und Medien in aller Welt haben diese Zahl in den vergangenen Jahren verbreitet. Unwidersprochen.
Unwidersprochen blieb die Zahl auch, als Ex-Kanzler Sebastian Kurz und die ÖVP-Nationalratsabgeordneten Axel Melchior und Gudrun Kugler die Zahl jüngst nach Österreich importierten. Ohne die Nennung einer Quelle behaupteten sie in einer Presseaussendung im November des Vorjahres: „80% der aufgrund ihres Glaubens verfolgten Menschen sind Christen.“ Melchior und Kugler streuten diese Behauptung ausgerechnet am sogenannten „Red Wednesday“, einem Tag, der weltweit auf das Schicksal von verfolgten Christen und Christinnen aufmerksam machen soll. Es wäre dem Anliegen allerdings dienlich, wenn die Fakten stimmen würden. Seit über einem Jahrzehnt ist diese Zahl im Umlauf – offenbar jedoch ohne irgendeine Grundlage. Wer hat diesen Schwindel in die Welt gesetzt? Und warum fiel die ÖVP darauf rein?
Wer hat die Behauptung aufgestellt?
Auf die Frage, woher die ÖVP diese Zahl hat, verweist die Partei auf einen Bericht, der im Jahr 2018 vom ehemaligen britischen Außenminister Jeremy Hunt in Auftrag gegeben wurde, verfasst vom anglikanischen Bischof Philip Mounstephen. Es ist eine Untersuchung zum Thema Religionsfreiheit mit besonderem Fokus auf die Situation für Christen weltweit. Der Autor des Berichts erwähnt die fragliche 80-Prozent-Behauptung zwar, hat sie aber nicht selbst berechnet, sondern nur zitiert. Und zwar aus einer Studie der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), einer CDU-nahen christlichen Organisation mit Sitz im deutschen Frankfurt am Main, die in der Vergangenheit wegen einer Nähe zum rechtesten Rand in der Kritik stand.
Die Spur führt nach Deutschland
Ist also die IGFM die Quelle? Martin Lessenthin, Sprecher des Vorstands der IGFM, dementiert diese Angaben vehement und sagt im Gespräch mit faktiv: „Ich bestätige diese Aussage weder für 2022 noch für einen früheren Zeitpunkt. Ausreichendes Datenmaterial für die Verbreitung einer solche Zahl liegt mir nicht vor. Diese Aussage wurde sicherlich auch nicht in der Vergangenheit von der IGFM Deutsche Sektion e.V. verbreitet.“
Die Recherchen von faktiv zeigen freilich etwas anders, sie führen bis in die Jahre 2005/2006 zurück. Ergebnis: Zahlreiche Zeitungsartikel und Interviews belegen, dass die 80-Prozent-Behauptung sehr wohl von der deutschen IGFM beziehungsweise vom aktuellen Präsidenten des Internationalen Rats der Organisation verbreitet wurden: dem Religionswissenschafter Thomas Schirrmacher. Schirrmacher ventilierte diese Zahl etwa in einem Interview mit der deutschen Zeitung „Welt“ im Jahr 2006, auch der öffentliche-rechtliche Radiosender „Deutschlandfunk“ zitierte Schirrmacher im selben Jahr mit der Behauptung. Die Zahl tauchte auch in den jährlich veröffentlichten Jahrbüchern zur Christenverfolg auf, die von der IGFM und Schirrmacher herausgegeben werden. Schirrmacher und die IGFM sind die früheste Quelle, die faktiv für diese Behauptung finden konnte. In den Interviews und Jahrbüchern fehlt jedoch etwas Entscheidendes: Eine Angabe dazu, wie diese Zahl berechnet wurde. Hat die christliche Organisation die Zahl einfach erfunden, um die Christenverfolgung dramatischer erscheinen zu lassen?
Alle distanzieren sich von der Behauptung
Heute distanziert sich der CDU-nahe Religionswissenschafter Schirrmacher, der bis heute in der IGFM aktiv ist, jedenfalls deutlich von der Zahl. faktiv erreichte ihn via Videocall. Er gibt zwar zu, diese Zahl verbreitet zu haben, er hätte diesbezüglich aber nie selbst Berechnungen angestellt. Die Zahl sei „uralt" und er habe das damals „fröhlich abgeschrieben“. Von wo, das wisse er leider nicht mehr, sagt Schirrmacher: „Wir haben das zwar zurückverfolgt, aber wir haben nicht gefunden, von wo wir das zitiert haben. Wir haben nur weiterverfolgt, seit wann die Zahl herumgeistert.“
Bis ins Jahr 1997 habe ihn diese Rückverfolgung geführt – in Protokollen der evangelischen Allianz und in einem Bericht der anglikanischen Kirche sei sie aufgetaucht. Belege konnte Schirrmacher diesbezüglich nicht vorgelegen. Fest steht jedenfalls: Obwohl er die Zahl einst selbstbewusst in Interviews vorbrachte, tut er sie heute als „unbedarftes innerkirchliches Gerede“ ab. Er gehe davon aus, dass es sich um eine „gefühlte Aussage“ handelt. faktiv konnte keine Quelle finden, die diese Zahl vor Schirrmacher verbreitete – und keinen Wissenschafter, der sich heute noch dazu bekennt.
Religiöse Verfolgung schwer zu definieren
Schirrmachers Distanzierung dürfte gute Gründe haben: Denn belastbare Erhebungen zur Frage, wie viele der religiös verfolgten Menschen aktuell Christen, Juden und Muslime sind, gibt es gar nicht. Lediglich die Anzahl verfolgter und diskriminierter Christen wird vom christlichen Hilfswerk Open Doors in ihrem Weltverfolgungsindex erhoben. Die Zahlen sind allerdings umstritten. Und: Es werden keine Aussagen über andere Religionsgemeinschaften getroffen, womit eine anteilige Berechnung unmöglich wird.
Nicht einmal UNHCR, das anerkannte Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nation, hat Zahlen dazu, wie hoch der Anteil von Christen und Muslimen unter allen religiös Verfolgten ist: „Statistiken, wie viele Menschen nach welchen Gründen verfolgt werden“, führe die Organisation nicht, so Ruth Schöffl, Pressesprecherin von UNHCR, zu faktiv. Sie befürchte außerdem, dass der Begriff „religiöse Verfolgung“ unterschiedlich gedeutet werden könnte. So
seien „verfolgte ethnische Minderheiten oft auch gleichzeitig religiöse Minderheiten“. Was UNHCR aber beobachtet: In vielen Gebieten weltweit werde Religion wieder stark dafür „missbraucht“, „Menschen gegeneinander aufzuhetzen, über alle religiösen Gemeinschaften hinweg.“
Fazit
Auch wenn christliche Politiker gerne behaupten, 80 Prozent aller Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden, wären Christen, lässt sich dafür kein Beleg finden. Mehr noch: Selbst christliche Organisationen und Religionswissenschafter, die diese Zahl in der Vergangenheit verbreiteten, distanzieren sich heute vehement davon. Die Recherchen von faktiv deuten darauf hin, dass führende Funktionäre der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), einer CDU-nahen christlichen Organisation aus Frankfurt, die Behauptung Mitte der 2000er in die Welt setzten. Heute will die IGFM davon aber nichts mehr wissen und bezeichnet die Zahlen als unseriös. Renommierte Organisationen wie UNHCR haben gar keine Daten zu religiös Verfolgten. Klares Fazit: Das war die Geschichte einer Zahl, die eindeutig unbelegt ist.