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Faktencheck

Ukraine-Krieg: Beschönigt Russland die Zahl seiner gefallenen Soldaten?

498 russische Soldaten wurden laut dem Moskauer Verteidigungsministerium in den ersten Tagen des Ukraine-Kriegs getötet. Kiew sprach zur gleichen Zeit von 7000 russischen Gefallenen. Was ist Propaganda, was stimmt?

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Seit 24. Februar sind 498 russische Soldaten in der Ukraine getötet worden. 1.597 russische Soldaten wurden verletzt.“

Russisches Verteidigungsministerium

2. März 2022

Unbelegt

Zum hässlichen Geschäft des Krieges gehören immer auch die Meldungen der Konfliktparteien über „neutralisierte“, „liquidierte“ oder „ausgeschaltete“  Kämpfer der Gegenseite. Das ist nüchtern-emotionsbefreiter Militärsprech für erschossene, zerfetzte und verbrannte Soldaten, und es ist gleichzeitig auch sehr oft: Propaganda. Als Faustregel gilt dabei stets: Die eigenen militärischen Erfolge werden möglichst groß und detailliert dargestellt, über Gefallene aus den eigenen Reihen wird nicht so gerne gesprochen. So räumte das russische Verteidigungsministerium erst am vierten Tag des Krieges ein, dass es überhaupt eigene „Tote und Verletzte“ gegeben habe. Die bisher einzigen konkreten Zahlen wurden am 2. März genannt: Bis zu diesem Zeitpunkt seien in der Ukraine 498 russische Soldaten getötet und 1597 verletzt worden, teilte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums mit. Zum gleichen Zeitpunkt behauptete ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, es wären bereits über 7000 russische Soldaten gefallen.

Zahlen sind in Kriegszeiten ein Propagandainstrument – und deshalb mit äußerster Vorsicht zu genießen. Es geht darum, Wut auszulösen, den Gegner zu demoralisieren und die Kriegslust entweder anzuheizen oder zu torpedieren. Aber wie lassen sich Kriegstote überhaupt seriös zählen? Und welchen Angaben kann man trauen?

Tabellen des Todes

Tatsächlich wissen sowohl die ukrainische als auch die russische Armee sehr genau über die jeweiligen Verluste Bescheid, sie haben bloß kein Interesse, diese Informationen zu teilen. Einheiten an der Front melden ihren Generälen laufend, wie viele ihrer Kameraden gefallen sind. „Jeder Soldat trägt eine Erkennungsmarke, die mit einer Ziffer versehen ist. Wenn jemand fällt, wird der Person diese Marke abgenommen. Für Soldaten besteht die Pflicht, ihre eigenen Kameraden zu bergen“, erklärt der Militärstratege Gerald Karner. Unschärfen seien dennoch schwer zu vermeiden. Karner geht davon aus, dass sowohl Russland als auch die Ukraine bei den eigenen Gefallenen – wenn überhaupt – nur offiziell bestätigte Fälle melden würden, die tatsächlichen Zahlen dürften deutlich höher sein.

„Beobachten und Melden“ ist ein Prinzip, das in Österreich jeder Grundwehrdiener zu Beginn seiner Ausbildung lernt. Es bedeutet: Im Militär werden Informationen meist sehr schnell und zuverlässig weitergeleitet – besonders was Erfolge betrifft, etwa wenn die Ukraine einen russischen Panzer abschießt, erklärt Bernhard Gruber, Kommandant des 22. Generalstabslehrgangs des Bundesheers, der höchsten Ausbildung für Offiziere. In einem sogenannten Lagebild werden schließlich die eigene Situation und die des Gegners zusammengefasst: „Darauf aufbauend werden weitere militärische Züge geplant – wie im Schach“, so Gruber. Auch aus der Historie ergeben sich Berechnungszahlen, mit denen eine grobe Einschätzung auf militärischer Ebene möglich ist. Gruber: „Diese Zahlen gehen aus dem sogenannten Handakt Taktik hervor: Bei einem Angriff braucht man zum Beispiel drei Mal mehr Personal und Waffen als bei einer Verteidigung. Bei einem Angriff auf ein gut verteidigtes Ziel des Gegners liegt das Verhältnis bei eins zu vier.“

Nicht als Propaganda

Genaueste Aufzeichnungen und Berechnungen helfen jedoch nicht, wenn diese nicht akkurat weitergegeben und geschönt publiziert werden. Stichwort: Propaganda – nach innen und außen. Kommandant Gruber erklärt: „Im Grunde sind das Informationsoperationen von Russland und der Ukraine. Man beeinflusst Bevölkerungsgruppen gezielt mit Nachrichten, schließlich haben diese enorme Auswirkungen: Einerseits auf Moral und Kampfbereitschaft der eigenen Soldaten sowie die Unterstützungsbereitschaft in der Bevölkerung. Auf der anderen Seite möchte man dem Gegner Stärke signalisieren.“ Militärexperte Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies in London teilt diese Einschätzung: „Beide Seiten haben ein Interesse, zu manipulieren.“ Und, so Gady: „Die Ukraine hat auch ein Interesse, die Anzahl der zivilen Opfer  höher darzustellen, um Mitleid und Wut auszulösen.“ Die Daten beider Seiten hält er für „nicht akkurat“.

Auch wenn den offiziellen Zahlen der Konfliktparteien nicht zu trauen ist, gibt es  doch unabhängige Schätzungen dazu, wie viele Soldaten der Krieg bereits das Leben gekostet hat. Fotos und Videos in sozialen Netzwerken, Satellitenbilder, Drohnenaufnahmen – Unbeteiligte können das Kriegsgeschehen mit digitalen Tools heute relativ genau verfolgen. Und ihre eigenen Berechnungen anstellen. Es gibt Blogs, die Fotos von zerstörten Fliegern und Fahrzeugen sammeln und so den Fortgang des Krieges darstellen. Es gibt Fachleute, die lokale Medienberichte bis ins letzte Detail analysieren und anhand der Zahl zerbombter Panzer Schlüsse auf Todeszahlen ziehen können.

Der Militärexperte Gady ist überzeugt davon, dass die russische Führung die Zahlen beschönigt: „Es sind sicher mehr als 500 russische Soldaten gefallen.“ Etwa zur selben Zeit, als Russland nach sieben Kriegstagen von knapp 500 Gefallenen sprach, schätzten hochrangige Beamte des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums die Zahl der russischen militärischen Todesopfer auf das Dreifache – gleich hoch wie die Verluste auf ukrainischer Seite.

profil fragte bei der Russischen Botschaft in Wien nach Zahlen zu Gefallenen, doch dort wird bloß auf die bald zwei Wochen alten Daten des russischen Verteidigungsministeriums verwiesen. Kiew dagegen nennt neue Zahlen: Inzwischen sollen mehr als 12.000 russische Soldaten getötet worden sein. Das entspräche einem Zehntel aller Einheiten, die am Angriffskrieg auf die Ukraine beteiligt sind – und ist daher sehr unwahrscheinlich.

Realistischer dürften die Schätzungen des US-Auslandsgeheimdiensts CIA sein, die von 2000 bis 4000 russischen militärischen Todesopfern ausgehen. Diese Kalkulation deckt sich mit der von Franz-Stefan Gady, der „mehrere Tausend“ russische Gefallene ausmacht. Fachmann Karner will sich auf genaue Rechnungen nicht einlassen, ist sich aber sicher, dass die offiziellen Zahlen Russlands „keinesfalls“ zutreffen würden.

UNO: Mehr als 500 getötete Zivilisten

Auch Angaben zu zivilen Opfern sind fraglich, obwohl sie nicht vom Militär gezählt werden, sondern von internationalen Organisationen, NGOs, Krankenhäusern und lokalen Behörden. Während der Kreml weiterhin betont, russische Streitkräfte „schießen nicht auf zivile Ziele“, wurden laut dem ukrainischen Rettungsdienst bis 2. März mehr als 2000 Zivilisten durch russische Angriffe getötet – zumeist durch den Einsatz von Explosivwaffen mit großer Reichweite. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) sprach zu diesem Zeitpunkt bloß von 249 getöteten Zivilisten, rund eine Woche später wurde die Zahl mit fast 550 beziffert. OHCHR nimmt aber an, dass tatsächlich erheblich mehr Menschen starben, da die Lage sehr unübersichtlich sei.

Fazit

Die russische Aussage, es seien 498 eigene Soldaten in der Ukraine getötet worden, ist fragwürdig, wird von vielen internationalen Experten angezweifelt und ist daher als unbelegt einzustufen. Fachleute sind der Ansicht, dass inzwischen mehrere tausend russische Soldaten getötet wurden. Militärexperte Franz-Stefan Gady gibt aber zu bedenken: „Im Nebel des Krieges kann man nur Schätzungen anstellen. Angaben beider Seiten können erst in ein paar Monaten genauer eruiert werden.“

Auf ukrainischer Seite soll es nach russischen Angaben nach einer Woche Krieg im Übrigen 2870 getötete „Soldaten und Nationalisten“ gegeben haben. Die Ukraine hat zu eigenen Verlusten keine Zahlen genannt. 

Katharina Zwins

Katharina Zwins

war Redakteurin bei profil und Mitbegründerin des Faktenchecks faktiv.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.