Wieso die Nationalratswahl keine Kanzlerwahl ist

FPÖ-Chef Herbert Kickl sieht in der jüngsten Nationalratswahl eine Kanzlerwahl und will mit seinem Vorzugsstimmen-Ergebnis den eigenen Anspruch auf die Kanzlerschaft legitimieren. Warum seine Argumentation nicht hält.

Drucken

Schriftgröße

Dass eine Regierungsbildung nach der jüngsten Nationalratswahl schwierig werden könnte, war schon vor dem Urnengang klar. Nach ersten Gesprächen mit den Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien, hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen keinen Regierungsbildungsauftrag erteilt – und Herbert Kickl (FPÖ), Karl Nehammer (ÖVP) und Andreas Babler (SPÖ) stattdessen zurück zum Start geschickt. Sie sollen in Gesprächen Lösungen für die „Niemand-will-mit Kickl“-Pattsituation finden. Ebenjener FPÖ-Parteichef machte am gestrigen Montag im Rahmen einer Pressekonferenz ein weiteres Mal klar, dass es eine von der FPÖ geführte Regierung ohne ihn nicht geben werde. Und schoss dabei intensiv in Richtung Karl Nehammer, dem Obmann jener Partei, mit der Kickl am liebsten koalieren möchte.

Man darf ja nicht vergessen, dass Karl Nehammer (...) Bundeskanzler geworden ist, ohne sich überhaupt für diese Funktion irgendwann einmal einer Wahl gestellt zu haben. Also ein Kanzler ohne Wahl. Und jetzt hat´s aber diese Kanzlerwahl gegeben.

Herbert Kickl (FPÖ)

FPÖ-TV am 14.10.2024

Falsch

Herbert Kickl bezieht sich in dieser Wortmeldung darauf, dass sich ÖVP-Chef Karl Nehammer nie einer Wahl stellen musste. Damit hat er recht, denn Nehammer kam unverhofft zu seinem Amt als Bundeskanzler: Weil die Grünen die Regierungskoalition mit der ÖVP unter ihrem damaligen Vorsitzenden Sebastian Kurz im Oktober 2021 aufgrund der ÖVP-Korruptionsaffäre nicht fortführen wollten, installierte die Volkspartei zuerst Außenminister Alexander Schallenberg als Kanzler, ehe im Dezember Karl Nehammer übernahm. Möglich waren diese Personalrochaden, weil beide Personen das Vertrauen von einer Mehrheit der Abgeordneten hinter sich vereinen konnten.

Dass Karl Nehammer jetzt vom zweiten Platz aus auch weiterhin den Anspruch stelle, Bundeskanzler zu bleiben, interpretiert Kickl als „eine grobe Missachtung des demokratischen Wahlergebnisses“. Nehammer sei bereits ohne Wahl Kanzler geworden, „jetzt hat´s aber diese Kanzlerwahl gegeben“ und bei dieser sei Nehammer abgewählt worden.

Die Nationalratswahl als Kanzlerwahl?

Personenwahlen gibt es in Österreich nur auf zwei Ebenen: Zum einen wird der Bundespräsident für eine Amtszeit von sechs Jahren direkt vom Wahlvolk gewählt. Zum anderen dürfen die Bürger:innen im Burgenland, in Oberösterreich, in Kärnten, in Salzburg, in Tirol und in Vorarlberg ihre:n Bürgermeister:in direkt wählen. In Wien, Niederösterreich und der Steiermark trifft diese Entscheidung der Gemeinderat. Aber wie sieht es bei der Nationalratswahl aus?

„Die Annahme, dass am 29. September der Bundeskanzler gewählt wurde, ist falsch. Da wurde der Nationalrat gewählt“, sagt Kathrin Stainer-Hämmerle, Politikwissenschaftlerin an der FH Kärnten. Bundeskanzler:in könne grundsätzlich jede Staatsbürger:in werden, „man muss nicht einmal für den Nationalrat kandidieren oder Mitglied des Parlaments sein“, so Stainer-Hämmerle. Beachten müsse der Bundespräsident, der eine:n Bundeskanzler:in ernennt, lediglich, dass die Person auf den Rückhalt der Mehrheit im Parlament vertretenen Abgeordneten bauen kann, sodass eine angelobte Regierung nicht Tags darauf per Misstrauensantrag im Nationalrat abgewählt werden könnte. „So konnte auch Brigitte Bierlein, die parteilos gewesen ist, Kanzlerin werden“, erklärt die Expertin.

Warum aber argumentiert Herbert Kickl damit, dass er als Vorsitzender der stimmenstärksten Partei den alleinigen Anspruch auf den Kanzlerstuhl hat?

„Mit dieser Aussage will Kickl den Volkspartei-Chef im Kanzleramt delegitimieren. Er selber sieht sich ja als ‚Volkskanzler'. Demgegenüber steht dann wohl in seiner Logik der ‚Systemkanzler', vor allem, wenn es zu einer Regierungsbildung ohne die Freiheitlichen kommen sollte“, sagt Politikberater Thomas Hofer. Alle anderen Parteivorsitzenden als illegitime Kanzler darzustellen, folge einer bekannten Logik: „Indem Kickl jetzt noch darauf hinweist, dass der Kandidat Nehammer noch nie eine Wahl gewonnen hat, vertieft er das Ungerechtigkeitsempfinden in der FPÖ-Wählerschaft zusätzlich“, so Hofer. Kickl führt aber im Pressegespräch einen weiteren Grund ins Treffen, weshalb er allein das Anrecht auf den Kanzlerstuhl habe: den Ausgang der Vorzugsstimmen.

Pikant daran ist, dass diese Ergebnisse von der im Innenministerium (BMI) sitzenden Bundeswahlbehörde erst am morgigen Mittwoch offiziell bekannt gegeben werden. Die Zahlen, die die FPÖ präsentiert, lauten wie folgt: Herbert Kickl erreichte 85.542 Vorzugsstimmen, Karl Nehammer 60.402 und Andreas Babler 46.440. Hat sich also die Mehrheit für Kickl als Kanzler ausgesprochen? „Da verwechselt Kickl zwei Dinge“, ordnet Stainer-Hämmerle ein: „Die absolute und die relative Mehrheit.“

Gegen die 28,8 Prozent der FPÖ stehen 71,2 Prozent der Stimmen, die andere Parteien gewählt haben. Es bleibt also ein Rätsel, warum Kickl sich angesichts dieser Zahlen von einer Bevölkerungsmehrheit gewählt sieht.

Kathrin Stainer-Hämmerle, Politikwissenschaftlerin

Bei der Nationalratswahl 2024 waren insgesamt 6.346.059 Millionen Menschen wahlberechtigt. Abgegeben wurden laut dem vorläufigen Endergebnis des BMI 4.929.745 Stimmen. Etwas weniger als 30 Prozent davon, also rund 1,4 Millionen, entfielen auf die FPÖ. „Als stärkste Partei hat er eine relative Mehrheit erreicht. Für eine Regierung braucht er aber die absolute Mehrheit.“ Seine Rechnung mit den Vorzugsstimmen ließe sich auch umkehren, rechnet die Politikwissenschafterin vor: Von 6.346.059 Millionen Wahlberechtigten haben 6.260.517 Menschen Kickl nicht direkt gewählt. Das sind beinahe 99 Prozent.

Vorzugsstimmen für Kanzlerfrage unbedeutend

Weil die Vorzugsstimmen aber nichts über die Kanzlerfrage aussagen, sondern vielmehr Aufschluss darüber geben, welche Mandatar:innen in den Nationalrat einziehen sollen, hat Kickl ohnedies andere Probleme: „Tatsache ist, dass er für viele seiner Forderungen keine parlamentarische Mehrheit findet. Die Mehrheit im Volk wird durch eine Mehrheit im Parlament repräsentiert“, sagt Stainer-Hämmerle, die dabei auch auf den nun stattfindenden Prozess der Regierungsbildung eingeht: „Wenn Kickl jetzt keine Mehrheit findet, die ihn als Bundeskanzler unterstützt, dann gibt es auch keine Mehrheit im Volk, die das unterstützt. Gegen die 28,8 Prozent der FPÖ stehen 71,2 Prozent der Stimmen, die andere Parteien gewählt haben. Es bleibt also ein Rätsel, warum Kickl sich angesichts dieser Zahlen von einer Bevölkerungsmehrheit gewählt sieht“, so die Politikwissenschaftlerin.

Ob es zu dieser Mehrheit in der Bevölkerung, die durch gewählte Volksvertreter:innen im Nationalrat repräsentiert wird, kommen wird, „wissen wir natürlich noch nicht”, sagt Hofer. Der Experte sieht eine blau-schwarze Koalition nicht vom Tisch, vielmehr sei diese aber von den Entwicklungen innerhalb der ÖVP abhängig. „Kickl baut vor für den Fall, dass es weiterhin die Oppositionsrolle für die FPÖ wird. Kommt es zu Blau-Schwarz, hat er es sich auch nicht verhaut, weil dann gibt es diese Variante wohl nur ohne Nehammer“, so der Politikberater.

Entsprechende Nachfragen zu Kickls Aussagen ließen die Freiheitlichen unbeantwortet. Fest steht allerdings: Die FPÖ wurde bei der jüngsten Nationalratswahl zur stimmenstärksten Partei im neuen Parlament gewählt. Das Bundeskanzleramt wurde damit aber nicht automatisch erobert. Dafür braucht ein:e Kandidat:in die Mehrheit im Nationalrat, die Kickl derzeit nicht vorweisen kann.

Fazit

Die Aussage des FPÖ-Vorsitzenden, dass jüngst eine Kanzlerwahl in Österreich stattgefunden hat, ist falsch. Denn wer Kanzler:in wird, entscheidet der Bundespräsident. Benennen kann dieser grundsätzlich jede Staatsbürger:in, die Person muss auch nicht im Nationalrat vertreten sein. Wichtig ist aber, dass sie die Mehrheit der Mandatar:innen im Nationalrat hinter sich vereinen kann, damit eine daraufhin vom Bundespräsidenten angelobte Regierung nicht kurz danach per Misstrauensvotum abgewählt wird. Auch die von Kickl erwähnten Vorzugsstimmen geben keinen Aufschluss darüber, wer Kanzler:in wird. Sie sind dafür gedacht, den Wähler:innen zu ermöglichen, bestimmte Politiker:innen von hinteren Plätzen vorzureiten und ihnen dadurch den Einzug in den Nationalrat zu ermöglichen.

Elena Crisan

Elena Crisan

war bis Oktober 2024 Journalistin im Online-Ressort.

Julian Kern

Julian Kern

ist seit März 2024 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. War zuvor im Wirtschaftsressort der „Wiener Zeitung“.