Pop

"Happier Than Ever" von Billie Eilish: Infektionsrisiko!

Billie Eilishs überraschend vielfältiges zweites Album setzt ihre Pop-Experimente fort.

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Mit Nasenbluten, sichtlich schlechter Laune und einer durchaus eigenwilligen Vision von chartsträchtigem Pop wurde sie zum role model der Post-Millennials. Den psychisch angeschlagenen Teenager, der sie immer noch ist (erst Mitte Dezember wird sie 20 werden), hat Billie Eilish konsequent in eine globale Karriere hinübergerettet. Aber es scheint, als wolle sie ihn nun sanft verabschieden: Man missversteht wohl den Titel ihres nun vorliegenden zweiten Albums, "Happier Than Ever", produziert und co-komponiert erneut von Eilishs älterem Bruder Finneas, wenn man die Phrase für bloß sarkastisch hält. Denn tatsächlich tritt sie derzeit so selbstsicher und gelassen auf, wie das möglich ist, wenn man zugleich weltweit verehrt, gestalkt und online gehasst wird. Aber zur Handpuppe einer visionslosen Musikindustrie lässt sich Eilish nicht machen; sie pocht auf Autonomie, plädiert unmissverständlich für Diversity und Girl Power, schreibt ihre eigenen Songs und inszeniert auch ihre Musikvideos selbst.

16 Songs finden sich auf "Happier Than Ever", fünf davon kannte man schon, weil sie als Singles vorab veröffentlicht worden waren: die Breitwand-Melancholie von "Your Power" etwa oder auch das zart jazzige, höchst infektiöse TripHop-Stück "Lost Cause"; Eilishs berühmtes Understatement, die entspannte Rhythmisierung und sparsame Instrumentierung als Markenzeichen sind auch in der Dark-Wave-Ode "NDA" präsent.

Das cool dahingehauchte Eröffnungsstück des Albums, "Getting Older", mag textlich kokett klingen, aber musikalisch ist es im besten Sinne simpel und zeitlos. Es ist der Ausgangspunkt eines Streifzugs durch die Musikgeschichte, durch Bossa Nova, Old-School-Balladen und Electro-Pop. Diese Songs zielen weder produktionstechnisch noch kompositorisch auf klangliche Tagesaktualität, sondern auf einen - möglicherweise voreiligen, die Zeiten und Stile aber klug überspannenden - Pop-Klassizismus.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.